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Überfahren eines auf der Straße Schlafenden – Verstoß gegen Sichtfahrverbot

Haftungsquote bei Verkehrsunfall: Betrunkener Fußgänger und Sichtfahrgebot des Kraftfahrers

Im März 2023 hat das Oberlandesgericht Hamm ein Urteil gefällt, das die Haftungsverteilung bei einem Verkehrsunfall zwischen einem betrunkenen Fußgänger und einem Kraftfahrer beleuchtet. Der Fall dreht sich um einen Fußgänger, der alkoholisiert und schlafend auf der Straße lag und von einem Auto überfahren wurde. Das Hauptproblem in diesem Fall war die Frage der Haftungsverteilung: Inwieweit ist der Fußgänger für sein Schicksal selbst verantwortlich, und welche Verantwortung trägt der Fahrer des Kraftfahrzeugs?

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 7 U 100/22 >>>

Verantwortung des betrunkenen Fußgängers

Überfahren eines auf der Straße Schlafenden – Verstoß gegen Sichtfahrverbot
Haftungsquote bei Verkehrsunfall: Ein Gleichgewicht zwischen dem Sichtfahrgebot des Kraftfahrers und der Verantwortung eines betrunkenen Fußgängers. (Symbolfoto: EugeneEdge /Shutterstock.com)

Der Fußgänger hatte sich durch den Konsum alkoholischer Getränke in einen Zustand versetzt, der die freie Willensbildung ausschloss. Das Gericht wies darauf hin, dass dieser Zustand nicht automatisch seine Zurechnungsfähigkeit oder sein Verschulden ausschließt. Gemäß § 827 Satz 2 BGB bleibt die Zurechnungsfähigkeit erhalten, wenn sich der Geschädigte selbstverschuldet in einen solchen Zustand versetzt hat. Der Fußgänger hat also durch sein Verhalten eine Mitschuld an den Unfallfolgen.

Sichtfahrgebot und Kraftfahrer

Auf der anderen Seite wurde dem Kraftfahrer ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot nach § 3 Abs. 1 Satz 2 und 4 StVO und/oder § 1 Abs. 2 StVO vorgeworfen. Das Gericht stellte fest, dass der Kraftfahrer das Hindernis – den auf der Straße liegenden Fußgänger – hätte erkennen müssen. Der Beweis des ersten Anscheins spricht gegen den Kraftfahrer, da entweder der Anhalteweg aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeit länger als die Sichtweite war oder seine Reaktion auf die rechtzeitig erkennbare Gefahr unzureichend war.

Haftungsquote und Schadensersatz

Das Gericht entschied, dass beide Parteien eine Haftungsquote von 50 % tragen. Die Klägerin, die als Pflegekasse des Geschädigten agierte, hat daher einen Anspruch auf Ersatz der für den Geschädigten aufgewendeten Kosten für die vollstationäre Pflege in Höhe von 10.323,31 Euro. Die Beklagten wurden als Gesamtschuldner verurteilt, diesen Betrag nebst Zinsen zu zahlen.

Relevanz für die Rechtspraxis

Dieses Urteil ist besonders interessant, da es die Haftungsverteilung in einem komplexen Fall von Verkehrsunfall mit einem betrunkenen Fußgänger und einem Kraftfahrer klärt. Es zeigt, dass sowohl der Zustand des Fußgängers als auch die Einhaltung der Verkehrsregeln durch den Kraftfahrer in die Haftungsabwägung einfließen. Das Urteil könnte als Präzedenzfall für ähnliche Fälle in der Zukunft dienen.

Haftungsfragen bei Überfahren eines auf der Straße Schlafenden: Wer trägt die Verantwortung?

Der Fall eines betrunkenen Fußgängers, der auf der Straße schläft und überfahren wird, wirft komplexe rechtliche Fragen auf. Beide Parteien könnten eine Mitschuld tragen. Sie sind unsicher, wie die Rechtslage in einem solchen oder ähnlichen Fall ist? Als erfahrener Rechtsanwalt im Verkehrs- und Versicherungsrecht biete ich Ihnen eine fundierte Ersteinschätzung Ihrer Situation an. Gemeinsam können wir im Anschluss die besten Schritte für Ihre individuelle Lage erörtern. Zögern Sie nicht, Kontakt aufzunehmen. Ihre Rechtsfragen verdienen klare Antworten.

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Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Hamm – Az.: 7 U 100/22 – Urteil vom 03.03.2023

Leitsätze:

1. Liegt ein Fußgänger betrunken schlafend auf der Straße, schließt dies analog § 827 Satz 2 BGB nicht ohne Weiteres seine Zurechnungsfähigkeit/sein Verschulden aus, wenn sich der Fußgänger selbstverschuldet in einen Zustand versetzt hat, der die freie Willensbildung ausschließt.

2. Grundsätzlich spricht gegen einen Kraftfahrer, der auf ein nicht ungewöhnlich / atypisch schwer erkennbares Hindernis auffährt, der Beweis des ersten Anscheins, dass entweder der Anhalteweg aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeit länger als die Sichtweite oder seine Reaktion auf die rechtzeitig erkennbare Gefahr unzureichend war (im Anschluss an BGH Urt. v. 23.6.1987 – VI ZR 188/86, r+s 1987, 312 = juris Rn. 12; siehe auch BGH Urt. v. 23.4.2020 – III ZR 251/17, NJW 2020, 3106 Rn. 33).

3. Zur positiven Feststellung eines alternativen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO wegen Unaufmerksamkeit oder gegen die Anforderungen des § 3 Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 StVO.

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 22.07.2022 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 10.323,31 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.11.2020 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe

I.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO abgesehen.

II.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagten aus übergegangenem Recht ihres Versicherungsnehmers und Geschädigten einen Anspruch auf Ersatz der für ihn aufgrund des Verkehrsunfalls vom 0.0.2016 aufgewendeten Kosten für die vollstationäre Pflege nach einer hälftigen Haftungsquote in Höhe von 10.323,31 EUR aus §§ 7 Abs. 1 StVG,  116 SGB X, hinsichtlich der Beklagten zu 2) in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG; denn dem Beklagten zu 1), der den Geschädigten vor der Kollision gar nicht wahrgenommen hat, ist ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 2, 4 StVO und / oder § 1 Abs. 2 StVO anzulasten. Im Einzelnen:

1.

Die Klägerin hat unstreitig als Pflegekasse des Geschädigten i.S.d. § 1 Abs. 3 SGB XI Sozialleistungen nach §§ 43 Abs. 2 Nr. 4, 43 b SGB XI unfallbedingt erbracht. Gem. § 116 Abs. 1, 3 SGB X kann die Klägerin von den Beklagten Ersatz dieser Aufwendungen in dem Umfang verlangen, in dem die Beklagten dem Versicherungsnehmer der Klägerin dem Grunde nach aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall haften.

a)

Da sich der Unfall bei Betrieb des von dem Beklagten zu 1) gesteuerten und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Kraftfahrzeugs ereignete, ist die Haftung nach § 7 StVG (i.V.m. § 115 VVG) unzweifelhaft eröffnet.

Die Ersatzpflicht der Beklagten ist auch nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen, da offenkundig keine höhere Gewalt vorlag.

Ebenso wenig greift ein Anspruchsausschluss nach § 17 Abs. 3 StVG wegen eines unabwendbaren Ereignisses. Gegenüber einem Geschädigten – wie vorliegend dem Versicherungsnehmer der Klägerin –, der selbst nicht als Halter eines Kraftfahrzeugs für die Betriebsgefahr eines unfallbeteiligten Kraftfahrzeugs einzustehen hat, ist die Vorschrift des § 17 StVG bereits nicht anwendbar (vgl. BGH, Urteil vom 17. Januar 2023 – VI ZR 203/22 –, Rn. 40, juris; OLG Celle, Urteil vom 16. November 2022 – 14 U 87/22 – , Rn. 29, juris).

b)

Die Beklagten haben nach § 7 Abs. 1 StVG – die Beklagte zu 2) i.V.m. § 115 VVG – für die Unfallfolgen mit einer Quote von 50 % einzustehen, da auch der Versicherungsnehmer der Klägerin und Geschädigte für die Unfallfolgen selbst mit einer Quote von 50 % einzustehen hat.

Gemäß § 9 StVG findet die Vorschrift des § 254 BGB Anwendung, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat. Hierbei folgt die Haftungsabwägung den zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätzen.

Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge können nur solche Umstände zu Lasten eines Beteiligten berücksichtigt werden, die unstreitig oder bewiesen sind und die sich ursächlich auf die Entstehung des Schadens ausgewirkt haben. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung auf Grund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 24. September 2013 – VI ZR 255/12 –, Rn. 7, juris, m.w.N.; OLG Hamm Beschl. v. 02.01.2018 – 7 U 44/17, NJW-RR 2018, 410, Rn. 36).

aa)

Nach diesen Grundsätzen ist ein schuldhafter Verstoß des Versicherungsnehmers der Klägerin und Geschädigten gegen die Sorgfaltspflichten als Fußgänger gem. §§ 2 Abs. 1 S. 1, 75 Nr. 1 FeV, § 25 Abs. 1 StVO in die Abwägung einzustellen.

Hierbei ist aufgrund des unstreitigen Vortrags der Parteien davon auszugehen, dass der Versicherungsnehmer der Klägerin und Geschädigte alkoholbedingt schlafend, mit dem Rücken zum Beklagtenfahrzeug, dunkel gekleidet, auf der Fahrbahn gelegen hat, als er vom Fahrzeug des Beklagten zu 1) überrollt wurde.

(1)

Soweit die Klägerin erstmals mit der Berufungsbegründung im Hinblick auf die Zurechnungsfähigkeit des Versicherungsnehmers und Geschädigten geltend macht, der Geschädigte sei volltrunken gewesen und ihm habe jegliches Bewusstsein für sein Handeln gefehlt, führt dieser Vortrag nicht zum Ausschluss des Mitverschuldens des Geschädigten; denn selbst wenn sich der Geschädigte beim Legen auf die Fahrbahn aufgrund seiner Alkoholisierung in einem vorübergehend die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hätte, vermag ihn das nicht zu entlasten.

Hinsichtlich der Bewertung der Zurechnungsfähigkeit als Voraussetzung des Mitverschuldens gelten nämlich die §§ 827, 828 BGB entsprechend (vgl. MüKoBGB/Oetker, 9. Aufl. 2022, BGB § 254 Rn. 34; Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 11. Februar 2021 – 7 U 147/20 –, Rn. 35, juris).

Analog § 827 S. 2 BGB bleibt die Zurechnungsfähigkeit erhalten, wenn sich der Geschädigte selbstverschuldet in einen Zustand versetzt hat, der die freie Willensbildung ausschließt (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. November 2013 – 1 U 35/13 –, Rn. 12, juris, m.w.N.; MüKoBGB/Oetker, 9. Aufl. 2022, BGB § 254 Rn. 34). Entsprechend § 827 S. 2 BGB wird der Mitverschuldensvorwurf also vorverlagert und zielt auf die Tatsache ab, dass der Geschädigte zumindest fahrlässig eine Situation herbeigeführt hat, in der er nicht mehr die zum Selbstschutz erforderliche Einsichtsfähigkeit hatte (vgl. Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 8. April 2021 – 7 U 2/20 –, juris; OLG Karlsruhe, Urteil vom 30. Januar 2009 – 1 U 192/08 –, Rn. 25, juris).

Diesen Grundsätzen folgend ist der Mitverschuldensvorwurf im Hinblick auf den Versicherungsnehmer der Klägerin auf den Trinkbeginn vorverlagert. Der Versicherungsnehmer der Klägerin hat durch den Konsum alkoholischer Getränke im Verlauf des Abends zumindest fahrlässig einen Zustand herbeigeführt, in dem er nicht mehr die zum Selbstschutz erforderliche Einsichtsfähigkeit zur Bewegung im Straßenverkehr besaß. Aus der beigezogenen Akte der Staatsanwaltschaft Arnsberg (Az.: 470 Js 275/17) ergibt sich, dass der Versicherungsnehmer an dem Abend bis 02:00 Uhr Alkohol konsumierte. Bei der Blutentnahme mindestens zehn Stunden nach dem Trinkende – sowie auch mindestens fünf Stunden nach dem Unfall – wies er noch eine Blutalkoholkonzentration von 0,92 Promille auf. Dafür, dass der Versicherungsnehmer der Klägerin ohne sein Verschulden in den Zustand alkoholbedingter Intoxikation geraten ist, ergibt sich nichts. Anhaltspunkte dazu, dass der Versicherungsnehmer der Klägerin sich infolge einer schweren Alkoholkrankheit dem Konsum alkoholischer Getränke bis zur Volltrunkenheit nicht zu entziehen vermochte, hat die Klägerin weder dargetan noch ist dies sonst ersichtlich.

(2)

Der Versicherungsnehmer der Klägerin hat gegen die Sorgfaltspflichten aus §§ 2 Abs. 1 Satz 1, 75 Nr. 1 FeV, § 25 Abs. 1 StVO verstoßen.

Er hat sich unstreitig trotz – wie vorstehend ausgeführt – erheblicher Alkoholisierung als Fußgänger im Straßenverkehr bewegt.

Eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit ist bei einem Fußgänger auch ohne Ausfallerscheinungen jedenfalls bei einer BAK ab 2,0 Promille unwiderleglich anzunehmen (vgl. BGH Urt. v. 8.7.1957, II ZR 177/56, BeckRS 2008, 17792 [unter 1.]; Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 15. Juni 2017 – 1 U 540/16 –, Rn. 19, juris; OLG Frankfurt, Urteil vom 12. Januar 2017 – 3 U 87/15 –, Rn. 32, juris).

Auf welchen konkreten Wert die BAK des Geschädigten für den Zeitpunkt des Unfalls zurückgerechnet werden kann und ob der Wert von 2,0 Promille erreicht – und der Geschädigte damit absolut verkehrsuntüchtig war – kann vorliegend dahingestellt bleiben. Wo die BAK für sich allein für die Annahme der Bewusstseinsstörung nicht ausreicht, können auch sonstige Tatsachen, insbesondere Ausfallerscheinungen bei dem Verhalten des Betroffenen im Straßenverkehr für die Bewusstseinsstörung sprechen (vgl. OLG Frankfurt, a.a.O.; OLG Hamm, Urteil vom 2. Oktober 2002 – 20 U 140/01 –, juris). Solche Ausfallerscheinungen des Geschädigten sind unzweifelhaft festzustellen: Der Versicherungsnehmer und Geschädigte lag im Unfallzeitpunkt alkoholbedingt auf der Straße und hat dort geschlafen. Diese Ausfallerscheinung hat sich dann auch kausal im Unfall ausgewirkt.

(3)

Der Versicherungsnehmer der Klägerin hat zudem gegen § 25 Abs. 1 StVO verstoßen. Er hat sich im Unfallzeitpunkt auf der Fahrbahn liegend aufgehalten. Gemäß § 25 StVO ist im Ausgangspunkt der Fußgängerverkehr den Gehwegen zugewiesen und gestattet im Weiteren nur unter den begrenzten Bedingungen der Norm die Nutzung der Fahrbahnen. Eine normgemäße Fahrbahnbenutzung durch den Versicherungsnehmer der Klägerin und Geschädigten liegt ersichtlich nicht vor. Dieser hat die Fahrbahn zweckentfremdet genutzt, indem er auf der Fahrbahn liegend geschlafen hat.

bb)

Auf Seiten der Beklagten ist ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen das Sichtfahrgebot nach § 3 Abs. 1 S. 2, 4 StVO und / oder ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO in die Abwägung einzustellen.

Nach dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme sowie insbesondere aufgrund der persönlichen Anhörung des Beklagten zu 1), der weder im Zuge des Ermittlungsverfahrens noch in erster Instanz, sondern erstmals vom Senat in zweiter Instanz angehört wurde, steht fest, dass der Beklagte zu 1) entweder entgegen den Sorgfaltsanforderungen des § 1 Abs. 2 StVO unaufmerksam war oder entgegen den Anforderungen des § 3 Abs. 1 S. 2, 4 StVO nicht auf Sicht gefahren ist, da er nach seinen eigenen Angaben erst durch die Kollision auf ein Hindernis auf seiner Fahrbahn aufmerksam geworden ist (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 08.12.1987 – VI ZR 82/87 -, NZV 1988, 57, unter 1., beck-online sowie Geigel Haftpflichtprozess/Freymann, 28. Aufl. 2020, Kap. 27 Rn. 99 mwN).

Dieser gegen den Beklagten zu 1) sprechende Anscheinsbeweis ist nicht erschüttert. Dies gilt insbesondere mit Blick auf das Sichtfahrgebot. Dieses gebietet es zwar nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, mit denen der Fahrer – bei Anwendung eines strengen Maßstabs – jedoch unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt rechnen muss. Dies betrifft etwa Hindernisse, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind oder deren Erkennbarkeit in atypischer Weise besonders erschwert ist und auf die nichts hindeutet (so BGH, Urteil vom 23.4.2020 – III ZR 251/17 -, NJW 2020, 3106, Leitsatz 3 sowie Rn. 33, beck-online).

Solches lässt sich im vorliegenden Fall jedoch nicht feststellen:

Das Sichtfahrgebot beruht auf der Erwägung, dass es dem Fahrer zugemutet werden kann, seine Geschwindigkeit dem vorausberechneten Anhalteweg anzupassen. An dieser Möglichkeit fehlt es nur dann, wenn sich der geschätzte Anhalteweg durch nicht voraussehbare und damit nicht einkalkulierbare Umstände verkürzt. Es darf insofern nicht auf eine statische Betrachtung aus einer bestimmten Entfernung abgestellt werden, vielmehr ist die Fahrt als dynamischer Vorgang zu betrachten (so BGH, Urteil vom 23.4.2020 – III ZR 251/17 -, NJW 2020, 3106, Rn. 37, beck-online).

Der Geschädigte hat hier zwar unstreitig alkoholbedingt schlafend, mit dem Rücken zum Beklagtenfahrzeug, dunkel gekleidet, im Kollisionszeitpunkt auf der Straße gelegen, aber er ist nicht erst kurz vor dem Unfallereignis auf die Straße getreten, um sich auf die Fahrbahn zu legen. Dies hat das Landgericht anhand der entsprechenden Angaben des Zeugen A zutreffend und damit für den Senat gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bindend festgestellt. Fehler in der Beweiswürdigung des Landgerichts sind nämlich weder aufgezeigt noch sonst ersichtlich. Folglich hat sich der Anhalteweg für den Beklagten zu 1) insoweit gerade nicht durch ein plötzliches Ablegen auf der Fahrbahn und damit nicht durch einen nicht voraussehbaren und damit nicht einkalkulierbaren Umstand verkürzt (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 23.4.2020 – III ZR 251/17 -, NJW 2020, 3106, Rn. 37 mwN, beck-online).

Zudem hatte der Beklagte zu 1) besonderen Anlass, die Fahrbahn vor ihm aufmerksam zu beobachten und auf Sicht zu fahren.

Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat hat der Beklagte zu 1) angegeben, er habe, als er ein entgegenkommendes Fahrzeug bemerkt habe, von Fernlicht auf Abblendlicht umgeschaltet; seine Geschwindigkeit habe er jedoch nicht reduziert. Auch aufgrund des von ihm wahrgenommenen in entgegengesetzter Fahrtrichtung mit Fernlicht am Straßenrand stehenden Fahrzeugs des Zeugen A habe er keinen Grund gesehen, sein Fahrzeug zu verlangsamen. Soweit beklagtenseits in erster und zweiter Instanz vorgetragen wurde, der Beklagte zu 1) sei aufgrund des Lichthupens seitens des Zeugen A geblendet und abgelenkt worden, stehen dem die Bekundungen des erstmals zum Unfallgeschehen angehörten Beklagten zu 1) entgegen. Der Beklagte zu 1) hat in seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat vielmehr hierzu auf explizites Befragen angegeben, dass der Zeuge A keine Lichthupe betätigt habe; vielmehr habe dieser das Fernlicht die gesamte Zeit eingeschaltet gehabt. Eine Beeinträchtigung habe er hierdurch aber nicht erfahren. Er habe sich vielmehr durch das mit Fernlicht auf der entgegengesetzten Fahrspur am Fahrbahnrand stehende Fahrzeug des Zeugen A gar nicht zu irgendeiner Reaktion aufgefordert gesehen.

Die Fahrt des Beklagten zu 1) als dynamischer Vorgang betrachtet lässt sich damit feststellen, dass er als Reaktion auf im Gegenverkehr auftauchendes Scheinwerferlicht auf Abblendlicht umgeschaltet, aber seine Geschwindigkeit von 60 – 70 km/h nicht zugleich der geringeren Sichtweite angepasst hat. Nach den Ausführungen des Sachverständigen C in dem in dem Ermittlungsverfahren StA Arnsberg, Az. 470 Js 275/17 eingeholten unfallanalytischen Gutachten (GA S. 23) betrug die Reichweite des Abblendlichtes des Beklagtenfahrzeugs nur etwa 30 m, während der Anhalteweg unter Zugrundelegung einer Geschwindigkeit von 60 km/h bereits 54 m beträgt. Zu einer Anpassung seiner Geschwindigkeit bzw. zu erhöhter Aufmerksamkeit sah der Beklagte zu 1) sich auch nicht deshalb veranlasst, obwohl/als er zwar das Anhalten des Gegenverkehrs unter Beibehaltung des Fernlichts als solches, aber nicht dessen Anlass erkannt hatte. Gerade Letzteres aber gab (zusätzlich) Veranlassung, die Fahrt – auch ohne eigene Beeinträchtigung durch das Fahrzeug im Gegenverkehr – nicht unverändert fortzusetzen; denn ein unvermittelter Stopp auf freier Strecke unter Beibehaltung des Fernlichts trotz (Abblenden des) Gegenverkehrs ohne erkennbaren Anlass ist ein Signal, ein Hinweis darauf, dass bei eigener Weiterfahrt möglicherweise mit dem Auftauchen von Hindernissen zu rechnen ist. Damit war mit Blick auf die streitgegenständliche Unfallkonstellation die Erkennbarkeit des auf der Fahrbahn liegenden Geschädigten auch nicht in atypischer Weise dadurch besonders erschwert, dass nichts auf ein untypisches Hindernis hingedeutet hätte. Angesichtsdessen, dass der Beklagte zu 1), der weder auf Sicht gefahren ist noch ausreichend aufmerksam den Fahrraum vor ihm beobachtet hat, den Geschädigten vor der Kollision gar nicht wahrgenommen und ihn daher ungebremst überrollt hat, ist der Anscheinsbeweis unzureichender Aufmerksamkeit bzw. des Fahrens nicht auf Sicht nicht nur nicht erschüttert, sondern vielmehr bestätigt.

Das pflichtwidrige Fahrverhalten des Beklagten zu 1) war auch kausal für das Unfallgeschehen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen C in dem in dem Ermittlungsverfahren StA Arnsberg, Az. 470 Js 275/17 eingeholten unfallanalytischen Gutachten (GA S. 23) ergab sich eine eindeutige Erkennbarkeit des Geschädigten aus einer Entfernung von 27 m. Bei einem gebotenen Fahren auf Sicht bzw. bei entsprechender Aufmerksamkeit des Beklagten zu 1), der zudem durch das Stoppen des Zeugen A zu gesteigerter Aufmerksamkeit und zur Anpassung der Geschwindigkeit veranlasst war, wären der Versicherungsnehmer der Klägerin und Geschädigte für den Beklagten zu 1) erkennbar und das Unfallgeschehen noch vermeidbar gewesen.

Soweit die Beklagten wie bereits schon erstinstanzlich erneut im Senatstermin die Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens mit Blick auf eine Verletzung des Sichtfahrgebotes beantragt haben, war eine derartige Beweiserhebung über das bereits aus dem Ermittlungsverfahren StA Arnsberg, Az. 470 Js 275/17 vorliegende unfallanalytische Gutachten hinaus, nicht geboten. Konkrete Tatsachen, die den hier getroffenen Feststellungen entgegenstehen, sind nicht vorgetragen.

cc)

Die gebotene Abwägung der beiderseitigen unfallursächlichen Verursachungsbeiträge führt zu einer je hälftigen Verantwortung beider Unfallbeteiligten. Insoweit hat der Senat berücksichtigt, dass der Geschädigte zwar die erste Ursache für das Unfallgeschehen gesetzt und damit maßgeblich zum Unfall beigetragen hat, dem Beklagten zu 1), der nach seinen eigenen Angaben vor der Kollision „gar nichts auf der Fahrbahn“ gesehen hat, jedoch ebenfalls ein nicht unerheblicher Verkehrsverstoß zur Last fällt. Die von ihm gesetzte Unfallursache weicht von der durch den Versicherungsnehmer der Klägerin gesetzten Erstursache in ihrer Ausprägung weder nach oben noch nach unten ab. Beide Unfallbeteiligten hatten es in der Hand, durch verkehrsrichtiges Verhalten den Unfall unschwer zu vermeiden. Beide haben durch ihr verkehrswidriges Verhalten gleichermaßen zum Unfallgeschehen beigetragen.

c)

Der Höhe nach sind die von der Klägerin geltend gemachten Kosten der vollstationären Pflege in Höhe von insgesamt 20.646,62 EUR unstreitig. Unter Zugrundelegung einer hälftigen Mithaftung der Beklagten steht der Klägerin insoweit der klageweise geltend gemachte Anspruch auf Zahlung in Höhe von 10.323,31 Euro zu.

d)

Die geltend gemachte Zinsforderung ab dem 14.11.2020 ergibt sich aus Verzug nach §§ 280 Abs. 1, 286 BGB aufgrund der vorgerichtlichen Zahlungsaufforderung mit Fristsetzung auf den 13.11.2020.

III.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da die diesbezüglichen Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.

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