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Kollision eines Pkw beim Fahrstreifenwechsel mit einem Lkw

OLG Celle – Az.: 14 U 193/19 – Urteil vom 20.05.2020

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 15. Oktober 2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden <5 O 139/18> teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin gegen das vorgenannte Urteil wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits (beide Instanzen) hat die Klägerin zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 3.557,26 EUR festgesetzt.

Gründe

(§§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 ZPO):

I.

1. Zulässigkeit der Berufungen

Die Berufungen der Beklagten und der Klägerin sind jeweils zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben und begründet worden. Die als „Anschlussberufung“ bezeichnete Berufung der Klägerin stellt nach ihren Formalien eine eigenständige Berufung dar. Als solche ist sie auch auszulegen, um zu verhindern, dass fälschlicherweise ihre Wirkungslosigkeit festgestellt wird, falls die Beklagten ihre Berufung zurücknehmen sollten [vgl. Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage, Bearbeiter Heßler zu § 524 Rn. 6; BGH, NJW 2011, 1455]. Im Übrigen hat der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung am 28. April 2020 klargestellt, dass er eine eigenständige Berufung erhoben habe.

2. Begründetheit der Berufungen

Die Berufung der Beklagten hat in der Sache Erfolg. Das angefochtene Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden <5 O 139/18> vom 15. Oktober 2019 war dahin abzuändern, dass die Klage insgesamt abgewiesen wird. Der Klägerin steht gegenüber den Beklagten kein Schadensersatzanspruch anlässlich des Verkehrsunfalles vom 12. März 2018 gegen 18.15 Uhr auf der BAB … im Bereich A., Einmündungsstelle zur BAB … zu. Die Zeugin G. hat die Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug in einem so erheblichen Maße allein verschuldet (§§ 7 Abs. 4 und Abs. 5 S. 1 StVO), dass es geboten ist, die (erhöhte) Betriebsgefahr für das Beklagtenfahrzeug vollständig zurücktreten zu lassen. Deshalb ist die Berufung der Klägerin, mit der sie eine Abänderung der von der Einzelrichterin gebildeten Haftungsquote zu ihren Gunsten begehrt, unbegründet und war zurückzuweisen. Dem Senat erscheint eine Haftungsquote von 100 zu 0 zulasten der Klägerin angemessen.

a) Verschulden der Zeugin G.

Die Verstöße der Zeugin G. gegen § 7 Abs. 4 und Abs. 5 S. 1 StVO sind im Berufungsverfahren nicht streitig und von der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden zutreffend erkannt worden.

Kollision eines Pkw beim Fahrstreifenwechsel mit einem Lkw
(Symbolfoto: Von PongMoji/Shutterstock.com)

aa) Die Zeugin G. durfte sich nicht darauf verlassen, dass der Beklagte zu 1) mit ihrem Fahrstreifenwechsel rechnete und ihr diesen im Sinne eines durchgeführten Reißverschlussverfahrens ermöglichen würde. Hierzu hat sie sich zu früh auf den weiterführenden Fahrstreifen eingeordnet und damit gegen die Grundsätze verstoßen, die § 7 Abs. 4 StVO für das sog. Reißverschlussverfahren aufstellt. Das Einfädeln auf dem weiterführenden Fahrstreifen erfolgt nach § 7 Abs. 4 StVO erst unmittelbar am Beginn der Verengung [Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage, Bearbeiter König zu § 7 StVO Rn. 2 a. E. und Rn. 20]. Nach den Erklärungen des Beklagten zu 1) in der mündlichen Verhandlung am 24. Oktober 2018 (Bl. 71, 72 d. A.), denen die Klägerin nicht entgegengetreten ist, waren es aber noch gut 600 m bis zur Auffahrt auf die A … als die Zeugin den Fahrstreifenwechsel vorgenommen hat, sodass das Ende des Fahrstreifens noch nicht erreicht gewesen ist. Auch aus den Angaben der Zeugin G. und ihrer Skizze, die der Sachverständige Dipl.-Ing. M. in seiner Anlage 11 zum schriftlichen Gutachten vom 21. Juni 2019 (Anlage zur Akte) umgesetzt hat, gab es kein Fahrstreifenende für die Zeugin G., die sie zur Durchführung eines Reißverschlussverfahrens berechtigte.

bb) Des Weiteren und vor allem hat die Zeugin G. gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO verstoßen, wonach bei einem Fahrstreifenwechsel eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen ist. Dies ist nach dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme nicht geschehen. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. M. hat sich die Kollision der beiden unfallbeteiligten Fahrzeuge ereignet, als beide in Bewegung waren. Das Klägerfahrzeug dürfte dabei etwa zur Hälfte in den Hauptfahrstreifen eingefahren gewesen sein. Der Lkw ist mit seiner vorderen rechten Front mit der linken hinteren Fahrzeugseite des Klägerfahrzeugs zusammengestoßen. Damit hat sich die Kollision eindeutig während des Fahrstreifenwechsels der Zeugin G. ereignet, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen gewesen ist. Sie hat sich in eine Lücke vor dem Lkw der Beklagten gesetzt, ohne zu beachten, dass die Sicht des Beklagten zu 1) nach vorne schräg rechts eingeschränkt gewesen ist. Jeder Fahrstreifenwechsel erfordert äußerste Sorgfalt, auch wenn er nur teilweise vollzogen wird [Hentschel/König/Dauer-König, § 7 StVO Rn. 17]. Es ist jeder Wechsel untersagt, bei dem fremde Gefährdung nicht ausgeschlossen ist [KG Berlin, MDR 2003, 1228]. Äußerste Sorgfalt setzt ausreichende Rückschau voraus; der nachfolgende Verkehr und ein ausreichender Abstand zu ihm sind zu gewährleisten [KG Berlin, VRS 109, 10; Hentschel/König/Dauer-König, a. a. O. mit weiteren Nachweisen]. Hierauf hat die Zeugin G. nicht geachtet. Gegen sie spräche bereits der Anschein für die Missachtung der Sorgfaltspflicht nach § 7 Abs. 5 StVO, wenn sich die Kollision unmittelbar nach dem Fahrstreifenwechsel ereignet hätte [vgl. Hentschel/König/Dauer-König, § 7 Rn. 17 a. E. mit weiteren Nachweisen]. Vorliegend war der Fahrstreifenwechsel aber noch nicht einmal beendet, sodass der Anscheinsbeweis erst Recht gegen die Klägerin greift. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. M. in dessen schriftlichen Gutachten vom 21. Juni 2019 (Anlage zur Akte) widerlegt das Spurenbild am Klägerfahrzeug die Behauptung der Zeugin G., sie habe während der Kollision gestanden; vielmehr haben sich beide Fahrzeuge in Bewegung befunden und sind in einem Winkel von 5 bis 10 Grad miteinander kollidiert, was einem normalen Spurwechsel entspricht.

b) Haftung der Beklagten

aa) Die Beklagten haften gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 VVG aus der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs. Diese ist angesichts der Größe und Masse des Sattelzuges erhöht. Die erhöhte Betriebsgefahr hat sich vorliegend auch konkret ausgewirkt, weil die Sichtmöglichkeiten für den Beklagten zu 1) ausweislich des in erster Instanz eingeholten schriftlich Sachverständigengutachtens von Dipl.-Ing. M. vom 21. Juni 2019 (Anlage zur Akte) nach vorne schräg rechts eingeschränkt gewesen sind. Ein Fahrer in einem Pkw hätte eine viel bessere Sicht auf das Klägerfahrzeug gehabt.

bb) Ein Verschulden des Beklagten zu 1) lässt sich nach dem eingeholten Sachverständigengutachten nicht nachweisen. Auch aus einem sog. Schuldeingeständnis des Beklagten zu 1) in der mündlichen Verhandlung am 24. Oktober 2018 kann die Klägerin für sich keine Rechte herleiten. Es trifft zwar zu, dass der Beklagte zu 1) erklärt hat, „ihm sei bewusst, dass das vielleicht seine Schuld gewesen ist“. Hieraus lässt sich aber kein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen die StVO herleiten. Die Beklagten können – wie im Folgenden unter Ziffer cc) ausgeführt wird – keinen Unabwendbarkeitsbeweis für den Beklagten zu 1) führen. Insoweit mag von einem Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1) zum Unfallgeschehen gesprochen werden, nämlich im Sinne der Realisierung der Betriebsgefahr für das Beklagtenfahrzeug. Darüber hinaus hat der Beklagte zu 1) mit seiner Formulierung „vielleicht“ selbst eine einschränkende Wertung vorgenommen. Nach den überzeugenden und unwidersprochen gebliebenen Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. M. in dessen schriftlichen Gutachten vom 21. Juni 2019 (Anlage zur Akte) lässt sich ein Verschulden des Beklagten zu 1) jedenfalls nicht feststellen. Die persönliche Sichtweise des Beklagten zu 1) ist irrelevant. Die rechtliche Bewertung seines Verhaltens bleibt letztlich dem Senat vorbehalten.

cc) Die Beklagten haben eine Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens für den Beklagten zu 1) (§ 17 Abs. 3 StVG) nicht beweisen können. Denn der Sachverständige Dipl.-Ing. M. hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 21. Juni 2019 (Anlage zur Akte) erklärt, die Sicht aus dem Sattelzug sei (nur) eingeschränkt gewesen, insbesondere nach schräg vorne rechts. Über die Front- und Rampenspiegel habe eine teilweise Erkennbarkeit des Klägerfahrzeugs für den Beklagten zu 1) bestanden. Prinzipiell sei von einer schweren Einsehbarkeit auszugehen. Es sei sogar möglich, dass der Pkw in Höhe des Führerhauses mitgefahren und langsam nach links gezogen sei, sodass er sich quasi in einer „Tarnzone“ der Sattelzugmaschine genähert habe. Nachweisbar sei dies jedoch nicht, sodass sich auch für den Beklagten zu 1) keine Unvermeidbarkeit des Unfallgeschehens feststellen lasse. Diese Ausführungen des Sachverständigen sind nachvollziehbar, vollständig, widerspruchsfrei und überzeugend. Der Senat schließt sich ihnen nach einer eigenen kritischen Überprüfung vollinhaltlich an; Einwendungen hiergegen hat keine Partei erhoben. Danach ist nicht auszuschließen, dass der Beklagte zu 1) einen Teil des Klägerfahrzeugs vor seiner eigenen Fahrzeugfront hätte wahrnehmen und hierauf hätte reagieren können. Den Nachweis fehlenden Verschuldens im Sinne von § 18 Abs. 1 S. 2 StVG hat der Beklagte zu 1) damit ebenfalls nicht erbracht [vgl. Hentschel/König/Dauer-König, § 18 StVG Rn. 4].

c) Haftungsquote

Bei der Bildung der Haftungsquote gemäß § 17 Abs. 1 StVG nach Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge der Fahrzeugführer ist zu berücksichtigen, dass die Zeugin G. gegen den höchsten Sorgfaltsmaßstab verstoßen hat, den die StVO kennt. Des Weiteren hat sie zwei Vorschriften der StVO verletzt, nämlich § 7 Abs. 4 StVO und § 7 Abs. 5 S. 1 StVO. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine Alleinhaftung desjenigen in Betracht kommt, der den Fahrstreifen wechselt [Hentschel/König/Dauer-Dauer, § 17 StVG Rn. 16; KG Berlin, VRS 109, 10; OLG Hamm, DAR 2005, 285; OLG Naumburg, VRS 129, 124; OLG Düsseldorf, VersR 2010, 1236; OLG Jena, NZV 2006, 147; OLG Naumburg, NZV 2008, 618; OLG Köln, DAR 2006, 324; Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 16. Auflage, Rn. 151 a. E.]. Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagten aus erhöhter Betriebsgefahr haften. Denn die erschwerten Sichtmöglichkeiten aus einem Lkw nach schräg vorne rechts sind allgemein bekannt. Hierauf hätte sich die Zeugin G. einstellen und beispielsweise durch Sichtkontakt mit dem Beklagten zu 1) sicherstellen müssen, dass er den von ihr beabsichtigten Fahrstreifenwechsel rechtzeitig erkennt und sich hierauf einstellt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen lag sogar eine Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens für den Beklagten zu 1) nahe; nur sicher nachweisbar ist sie nicht. Das zeigt, dass der Haftungsanteil der Beklagten sehr gering einzuschätzen ist. Dagegen wiegt das Verschulden der Zeugin G. angesichts ihrer hohen Sorgfaltspflichten schwer. Sie hat durch ihr Fahrverhalten unnötig eine gefährliche Situation geschaffen, die sie selbst voll überblicken konnte, die für den Beklagten zu 1) aber schwer zu erkennen gewesen ist. Der Senat hält deshalb eine Haftungsquote von 100 zu 0 zulasten der Klägerin für angebracht. Demzufolge ist die Klage unbegründet und war auf die Berufung der Beklagten abzuweisen. Die Berufung der Klägerin ist unbegründet und war zurückzuweisen.

II.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1, 544 Abs. 2 Nr. 1, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 543 ZPO) liegen nicht vor.

III.

Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren folgt aus § 3 ZPO, §§ 45 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2, 47 Abs. 1 GKG. Der Streitwert für die Berufung der Beklagten und für die Berufung der Klägerin betragen jeweils 1.778,63 EUR, insgesamt errechnen sich 3.557,26 EUR.

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