BGH, Az.: IV ZR 173/01, Urteil vom 29.01.2003
Die Revision gegen das Urteil des 24. Zivilsenats in Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 11. Mai 2001 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger verlangt vom Beklagten, seinem Kaskoversicherer, aus einem Verkehrsunfall Schadensersatz in Höhe von 26.900 DM. Er fuhr mit seinem PKW am 28. Oktober 1998 gegen 6.00 Uhr in Darmstadt in eine weitläufige Kreuzung ein, obwohl die für ihn maßgebliche Ampel Rotlicht zeigte. Im Kreuzungsbereich stieß er mit dem von rechts herankommenden Fahrzeug eines anderen Verkehrsteilnehmers zusammen, der bei Grünlicht in die Kreuzung eingefahren war. Der Beklagte hält sich nach § 61 VVG für leistungsfrei, weil der Kläger den Unfall durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt habe.
Der Kläger behauptet, er habe sich der Kreuzung bei Rotlicht genähert und als erstes Fahrzeug auf der linken Geradeausspur angehalten. Rechts neben ihm hätten keine Fahrzeuge gestanden. Direkt neben ihm auf der Linksabbiegespur habe ein anderes Fahrzeug gestanden. Darin habe er einen Arbeitskollegen erkannt und diesen gegrüßt. Als er wieder nach rechts geschaut habe, habe er „Grün“ gesehen und sei in der Meinung losgefahren, das Umschalten der Ampel während des Hinüberschauens zu seinem Arbeitskollegen verpaßt zu haben. Seinen Irrtum könne er sich nur so erklären, daß er das Umschalten eines anderen Elements der Ampelanlage mißgedeutet habe oder durch das im Rückspiegel registrierte Grünlicht einer hinter ihm an der zurückliegenden Kreuzung installierten Ampelanlage getäuscht worden sei.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht (r+s 2001, 313) hat ihr stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das Berufungsurteil hält der rechtlichen Nachprüfung im Ergebnis stand.
I. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts zum Unfallverlauf hat der Kläger zunächst bei Rotlicht angehalten, seinen Arbeitskollegen gesehen und gegrüßt und ist erst danach angefahren, weil er durch irgendein nachträglich nicht exakt zu konkretisierendes, in seinem Blickfeld liegendes optisches Signal und dessen fehlerhafte Verarbeitung zu dem gleichsam natürlichen Eindruck gekommen sei, die Ampel sei auf „Grün“ umgesprungen. Zu dieser Überzeugung ist das Berufungsgericht aufgrund der Zeugenaussage des Arbeitskollegen und des persönlich glaubwürdigen Eindrucks vom Kläger gelangt, den es auf seine früheren schriftlichen Äußerungen und seine Anhörung in der mündlichen Verhandlung gestützt hat.
Das Berufungsgericht meint, bei dem von ihm festgestellten Sachverhalt wäre auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteile vom 8. Juli 1992 – IV ZR 223/91 – VersR 1992, 1085 = BGHZ 119, 147 und vom 18. Dezember 1996 – IV ZR 321/95 – VersR 1997, 351) Leistungsfreiheit nach § 61 VVG wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls anzunehmen. Dieser Rechtsprechung sei aber nicht zu folgen, weil ihr Sinn und Zweck von § 61 VVG entgegenstünden. Der Begriff der groben Fahrlässigkeit sei nicht für alle Rechtsgebiete gleich, sondern bei einer Verknüpfung mit der Leistungspflicht eines Versicherers nach dem Zweck der konkreten Versicherung zu bestimmen. Es würde eine mit dem Zweck der Vollkaskoversicherung unvereinbare Aushöhlung des Versicherungsschutzes bedeuten, die Folgen eines durch typisch menschliche Unzulänglichkeit verursachten Augenblicksversagens aus dem Kreise der versicherten Risiken auszunehmen. Mit dem regelhaften Schluß vom objektiv groben Pflichtverstoß auf die subjektive Unentschuldbarkeit dieses Verstoßes werde auch die nach § 61 VVG erforderliche positive Feststellung der besonderen subjektiven Vorwerfbarkeit in ein negatives Merkmal umgewandelt. Nunmehr müsse der Versicherungsnehmer das Gericht davon überzeugen, daß ein äußerlich grober Mißgriff ausnahmsweise zu entschuldigen sei.
Auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung nimmt das Berufungsgericht an, der Kläger habe den Unfall zwar durch einen objektiv groben Verstoß gegen die Regeln des Straßenverkehrs schuldhaft herbeigeführt. Subjektive Unentschuldbarkeit lasse sich aber nicht feststellen, weil sich das Fehlverhalten des Klägers den Umständen nach nur durch ein Augenblicksversagen erklären lasse, das nicht auf Sorglosigkeit oder Gleichgültigkeit im Umgang mit dem versicherten Fahrzeug beruhe.
II. Die rechtlichen Erwägungen des Berufungsgerichts geben keinen Anlaß, die Rechtsprechung des Senats zu ändern. Auf der Grundlage der Entscheidungen des Senats zur grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sinne von § 61 VVG, auch der Entscheidung in BGHZ 119, 147, ist das angefochtene Urteil im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Nach ständiger Rechtsprechung der Zivilsenate des Bundesgerichtshofs wird der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit grundsätzlich einheitlich bestimmt (vgl. Urteil vom 17. Oktober 1966 – II ZR 123/64 – VersR 1966, 1150 unter III; Urteil vom 8. Februar 1989 – IVa ZR 57/88 – VersR 1989, 582 unter 2; Urteil vom 29. September 1992 – XI ZR 265/91 – NJW 1992, 3235 unter I 2 a und b; Urteil vom 30. Januar 2001 – VI ZR 49/00 – NJW 2001, 2092 unter II 1 a). An diesem Grundsatz ist schon aus Gründen der Rechtssicherheit festzuhalten. Die vom Berufungsgericht befürwortete unterschiedliche Definition des Begriffs jeweils nach der konkreten Versicherung würde im Versicherungsrecht wegen der zahlreichen verschiedenen Arten von Versicherungen zu einer kaum noch überschaubaren Aufsplitterung des Begriffs der groben Fahrlässigkeit im Sinne von § 61 VVG und damit zu einer nicht hinnehmbaren Rechtsunsicherheit führen.
2. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und unbeachtet läßt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Im Gegensatz zur einfachen Fahrlässigkeit muß es sich bei einem grob fahrlässigen Verhalten um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt (BGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – IV ZR 321/95 – VersR 1997, 351 unter II 2 c; vgl. ferner die oben unter II. 1. aufgeführten Urteile). Diese Begriffsbestimmung berücksichtigt den Grundgedanken des § 61 VVG. Danach soll der Versicherungsnehmer, der sich in bezug auf das versicherte Interesse völlig sorglos oder sogar unlauter verhält, keine unverdiente Vergünstigung erhalten. So hat § 61 VVG ähnlich wie § 162 BGB den Gedanken von Treu und Glauben übernommen (BGH, Urteil vom 8. Februar 1989 aaO unter 1 a m.w.N.).
3. a) Aus dem Senatsurteil in BGHZ 119, 147 ist entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kein Grundsatz abzuleiten, nach dem die Mißachtung des roten Ampellichts stets grob fahrlässig ist (Römer, NVersZ 2001, 539 unter II; ders. ZfS 2001, 289 unter I 2 c). Der Senat hat lediglich die Ansicht der Vorinstanz als rechtsfehlerfrei bezeichnet, das Überfahren einer roten Ampel sei in aller Regel objektiv als grob fahrlässig zu bewerten (aaO S. 148 unter 1 der Gründe). Über eventuelle Ausnahmen in objektiver Hinsicht war nichts auszuführen, weil das Berufungsgericht mit Recht keine Ausnahme in Betracht gezogen hatte.
b) Das Nichtbeachten des roten Ampellichts wird wegen der damit verbundenen erheblichen Gefahren in aller Regel als objektiv grob fahrlässig anzusehen sein. Nach den jeweiligen Umständen kann es jedoch schon an den objektiven oder an den subjektiven Voraussetzungen der groben Fahrlässigkeit fehlen. Dies kann der Fall sein, wenn die Ampel nur schwer zu erkennen oder verdeckt ist und bei besonders schwierigen, insbesondere überraschend eintretenden Verkehrssituationen (vgl. OLG Hamm VersR 2002, 603 f.; OLG Köln NVersZ 1999, 331 f.; OLG Nürnberg NJW-RR 1996, 986 f.; OLG Köln r+s 1991, 82 f.). Eine Beurteilung als nicht grob fahrlässig kann auch in Betracht kommen, wenn der Fahrer zunächst bei „Rot“ angehalten hat und dann in der irrigen Annahme, die Ampel habe auf „Grün“ umgeschaltet, wieder angefahren ist (so neuerdings wieder OLG Hamm r+s 2000, 232; OLG Jena VersR 1997, 691 f.; OLG München NJW-RR 1996, 407). Diese Beispiele sind nicht abschließend. Wegen der „Verschlingung“ objektiver und subjektiver Gesichtspunkte und der Notwendigkeit, die Würdigung auf die besonderen Umstände des Einzelfalles abzustellen, lassen sich nur mit großen Vorbehalten allgemeine Regeln darüber entwickeln, wann eine unfallursächliche Fahrlässigkeit als grobe zu qualifizieren ist (BGH, Urteil vom 11. Juli 1967 – VI ZR 14/66 – VersR 1967, 909).
c) Ob die Fahrlässigkeit im Einzelfall als einfach oder grob zu werten ist, ist Sache der tatrichterlichen Würdigung. Sie erfordert eine Abwägung aller objektiven und subjektiven Tatumstände und entzieht sich deshalb weitgehend einer Anwendung fester Regeln (BGH, Urteil vom 5. Dezember 1966 – II ZR 174/65 – VersR 1967, 127 unter 1 und 2; BGH, Urteil vom 5. April 1989 – IVa ZR 39/88 – VersR 1989, 840 unter 2; Römer, VersR 1992, 1187 unter II 3). Diese tatrichterliche Würdigung ist mit der Revision nur beschränkt angreifbar. Nachgeprüft werden kann nur, ob in der Tatsacheninstanz der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit verkannt worden ist oder ob beim Bewerten des Grades der Fahrlässigkeit wesentliche Umstände außer Betracht geblieben sind (BGH, Urteil vom 8. Februar 1989 aaO unter 1 b).
4. a) Aus dem Senatsurteil in BGHZ 119, 147 ergibt sich entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch nicht, daß aus einem objektiv groben Pflichtverstoß regelhaft auf die subjektive Unentschuldbarkeit geschlossen werden könne und entgegen der anerkannten Beweislast des Versicherers für das Eingreifen eines Risikoausschlusses der Versicherungsnehmer den Entschuldigungsbeweis zu führen habe (siehe dazu Römer, NVersZ 2001, 539 f.; Rixecker, ZfS 2001, 550 f.). Der Senat hat vielmehr daran festgehalten, daß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vom äußeren Geschehensablauf und vom Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge und deren gesteigerte Vorwerfbarkeit geschlossen werden könne (BGHZ 119, 147, 151) und dazu auf sein Urteil vom 8. Februar 1989 (aaO unter 4 d) hingewiesen. Dort ist ausdrücklich klargestellt, daß auch für die subjektive Seite des Schuldvorwurfs gemäß § 61 VVG der Versicherer darlegungs- und beweispflichtig ist. Dabei sind die Grundsätze des Anscheinsbeweises nicht anwendbar (BGH, Urteil vom 21. April 1970 – VI ZR 226/68 – VersR 1970, 568 unter II 2). Allerdings ist es Sache des Versicherungsnehmers, ihn entlastende Tatsachen vorzutragen. Das entspricht dem allgemeinen prozessualen Grundsatz, wonach die nicht beweisbelastete Partei ausnahmsweise eine Substantiierungslast treffen kann. Ein solcher Fall liegt vor, wenn der darlegungspflichtige Gegner außerhalb des von ihm darzulegenden Geschehensablaufs steht und die maßgebenden Tatsachen nicht näher kennt, während sie der anderen Partei bekannt sind und ihr ergänzende Angaben zuzumuten sind (BGH, Urteil vom 3. Februar 1999 – VIII ZR 14/98 – NJW 1999, 1404 unter II 2 b aa m.w.N.; Zöller/Greger, ZPO 23. Aufl. vor § 284 Rdn. 24, 34 ff.). Bei einem Verkehrsunfall wird diese Konstellation regelmäßig gegeben sein. An der Beweislast ändert dies nichts (OLG Hamm VersR 2002, 603).
b) Der Senat hält daran fest, daß die bloße Berufung des Kraftfahrers auf ein „Augenblicksversagen“ kein ausreichender Grund ist, grobe Fahrlässigkeit zu verneinen. Die nur momentane Unaufmerksamkeit kann unterschiedliche Ursachen haben. Trägt der Versicherungsnehmer zur Ursache des kurzzeitigen Fehlverhaltens und den sonstigen Umständen nichts vor, kann der Tatrichter den Schluß ziehen, daß ein objektiv grob fahrlässiges Mißachten des Rotlichts auch subjektiv als unentschuldbares Fehlverhalten zu werten ist.
5. Das Berufungsurteil ist nicht deshalb aufzuheben, weil das Berufungsgericht der Ansicht ist, die von ihm gefundene Rechtsauffassung weiche von der Senatsrechtsprechung ab. Diese Ansicht beruht im wesentlichen auf einem nicht zutreffenden Verständnis der Senatsurteile vom 8. Juli 1992 (BGHZ 119, 147) und vom 18. Dezember 1996 (IV ZR 321/95 – VersR 1997, 351). Auch auf der Grundlage dieser Urteile und der vorstehend dargestellten sonstigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat die Würdigung des Berufungsgerichts Bestand, subjektiv grobe Fahrlässigkeit sei dem Kläger nicht anzulasten. Der Kläger hat sich nicht lediglich auf ein „Augenblicksversagen“ berufen. Er hat im einzelnen dargelegt, was der Fehlreaktion vorausgegangen ist und wie es nach seiner Erinnerung dazu gekommen ist oder gekommen sein muß. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte der Kläger bei „Rot“ zunächst angehalten und ist nur deshalb noch bei „Rot“ wieder angefahren, weil er aufgrund der Fehldeutung irgendeines in seinem Blickfeld liegenden optischen Signals zu der Überzeugung gelangt sei, die Ampel sei soeben auf „Grün“ umgesprungen. Daß das Berufungsgericht dies nicht als ein in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten bewertet hat, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Es ist auszuschließen, daß das Berufungsgericht nach einer Zurückverweisung zu einem anderen Ergebnis gelangt.