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Verkehrsunfall beim Anfahren vom Seitenrand – Rückschaupflicht

AG Berlin-Mitte – Az.: 108 C 3421/10 – Urteil vom 15.08.2011

1. Die Beklagten werden verurteilt als Gesamtschuldner an den Kläger 294,60 EUR nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30.9.2010 sowie 600,00 EUR Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30 9.2010 zu zahlen.

2. Die Beklagten die Kosten des Rechtsstreits als Gesamtschuldner zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt vollständigen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 29.4.2010 auf dem Kurfürstendamm in Berlin.

Hinsichtlich Höhe und Zusammensetzung der Klageforderung wird auf die Klageschrift und den Schriftsatz des Klägervertreters vom 14.3.11 Bezug genommen.

Das klägerische Fahrzeug, ein Roller, gesteuert vom Kläger, befuhr den Kurfürstendamm in der linken Spur hinter einem Opel Astra. dieser hielt plötzlich an. Der Kläger verlangsamte und fuhr rechts an diesem Fahrzeug vorbei.

Das Beklagten- Fahrzeug, gesteuert vom Beklagten zu 1) welches bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, fuhr vor dem Astra vom Mittelstreifen an.

Es kam sodann zu einem Zusammenstoß mit dem Beklagtenfahrzeug. Der Kläger stürzte und verletzte sich erheblich. Der Beklagte zu 1 war zwar ohne Fahrerlaubnis, dafür aber mit 1,1 %° BÄK unterwegs.

Der Kläger behauptet, er hätte geblinkt und Rückschau genommen, es sei kein nachfolgender Verkehr zu sehen gewesen. Er sei vorsichtig am rechten Rand des linken Fahrstreifens vorbeigefahren. Nach kurzem Fahrweg sei er dann plötzlich gegen das Beklagtenfahrzeug gestoßen.

Der Kläger beantragt nach teilweiser Rücknahme nunmehr:

Verkehrsunfall beim Anfahren vom Seitenrand - Rückschaupflicht
Symbolfoto: Von FOTO SALE/Shutterstock.com

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 294,60 EUR nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz. seit dem 30.9.2010 sowie 600,00 EUR Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30.9.2010 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Sie behaupten, dass das klägerische Fahrzeug sorgfaltspflichtwidrig in der Busspur gefahren sei, der Beklagtenwagen sei erkennbar gewesen, die rechtfertige eine Mithaftung des Klägers von 40 %.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die auf §§7 Abs. 1,17 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 823 Abs. 1, 249 ff., 253 BGB, 115 VVG gestützte Klage ist nicht begründet.

Unstreitig ist der Beklagte zu 1) im engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall vom Mittelstreifen in den fließenden Verkehr eingefahren.

Der Beklagte zu 1) hatte daher die besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO zu beachten.

Er hatte daher Rücksicht auf den fließenden Verkehr zu nehmen und die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, erforderlichenfalls hätte sie sich einweisen lassen müssen.

Gemäß § 10 StVO hat der fließende Verkehr Vorrang gegenüber demjenigen, der vom Fahrbahnrand aus anfährt. Letzterer hat sich daher dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Zudem hat er seine Absicht rechtzeitig und deutlich anzukündigen unter Benutzung des Fahrtrichtungsanzeigers. Der fließende Verkehr darf in der Regel darauf vertrauen, dass sein Vorrang beachtet wird. Von dem Anfahrenden wird äußerste Sorgfalt gefordert, sodass er gegenüber dem fließenden Verkehr regelmäßig allein verantwortlich ist (vgl. BGH, VersR 1985,135; KG, DAR 1976, 213, seither in ständiger Rechtsprechung).

Kommt es im Zusammenhang mit dem Anfahren vom Fahrbahnrand zu einem Unfall, spricht der Beweis des ersten Anscheines gegen den vom Fahrbahnrand Anfahrenden (vgl. OLG Brandenburg, DAR 2002, 307; KG, VM 2001, 27; OLG Frankfurt, VersR 1999, 864). Letzterer trägt daher die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er sich verkehrsrichtig verhalten und der durch § 10 StVO geschützte Verkehrsteilnehmer den Unfall (mit)verschuldet hat. Dabei darf sich der vom Fahrbahnrand Anfahrende nicht darauf verlassen, dass durch den fließenden Verkehr Fahrstreifen beibehalten werden (vgl. KG, DAR 2004, 387) und auch nicht auf das Befahren der rechten Fahrbahnseite (vgl. BGH, NZV 1991, 187; OLG Celle, NZV 1991,195).

So mindert sich die Haftung des Ausfahrenden oder entfällt möglicherweise ganz, wenn der fließende Verkehr infolge überhöhter Geschwindigkeit sich außerstande setzt, unfallverhütend zu reagieren, oder genügend Zeit hat, sich auf das Verhalten des Anfahrenden einzurichten (vgl. ständige Rechtsprechung des KG, zuletzt KG, 12.U.1430/93 vom 31. Oktober 1994; KG, 12.U.4982/92 vom 10. November 1994). Der gegen den Anfahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann nur durch bewiesene Tatsachen ausgeräumt werden, welche die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes als den nach der allgemeinen Erfahrung typischen ergeben können (vgl. BGH, VersR 1989, 859 f.; NJW 1982, 2668 = VersR 1982, 903; KG DAR 1984, 85 f.; seither in ständiger Rechtsprechung, zuletzt KG 12.U.1430/93 vom 31. Oktober 1994).

Gegen die Beklagten spricht aus der vorgenannten Vorschrift ein Anscheinsbeweis, den diese nicht durch einen geeigneten Tatsachenvortrag haben entkräften können. Der Beklagten – Vortrag ist unerheblich.

Wenn der Beklagte zu 1) tatsächlich die erforderliche Rückschau genommen hätte und keinen nachfolgenden fließenden Verkehr erblickt hätte, ist es physikalisch ausgeschlossen, dass bereits nach wenigen Metern nach dem Anfahrmanöver das klägerische Fahrzeug mit dem Beklagtenfahrzeug kollidiert.

Das Klägerfahrzeug ist mit Sicherheit nicht vom Himmel gefallen, das vom Beklagten zu 1) bekundete plötzliche Auftauchen ist auch nicht mit einer überhöhten Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeuges zu erklären, sondern schlicht mit fehlender Rückschau des Beklagten zu 1). Dem Kläger stand das Vorfahrtsrecht auf der gesamten Fahrbahn zu, auch auf der Busspur.

Es musste daher bei dem gegen die Beklagten sprechenden Anscheinsbeweis verbleiben. Eine Mithaftung des Klägers auch unter dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr kam hier nicht mehr in Betracht.

Der Kläger hat Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 1500,00 €.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist von seiner Doppelfunktion auszugehen. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für diejenigen Schäden bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind und zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung dafür schuldet, was er ihm angetan hat. Der Entschädigungs- und Ausgleichsgedanke steht im Vordergrund. Die wesentliche Grundlage für die Bemessung des Schmerzensgeldes bildet das Maß und die Dauer der Lebensbeeinträchtigung, die Größe, Heftigkeit und Dauer des Schmerzes und der Leiden. An sich gibt es keine angemessene Entschädigung für nicht vermögensrechtliche Nachteile, da diese in Geld unmittelbar nicht messbar sind. Unter Berücksichtigung der Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion, die eine billige Entschädigung im Sinne des § 253 Abs. 2 BGB fordert, ist auf den Einzelfall abzustellen. Dabei ist nicht der ausgleichsersichtliche Rahmen zu sprengen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass über einen Schmerzensgeldanspruch grundsätzlich einheitlich zu entscheiden ist, d. h. für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Unter Berücksichtigung der hier vorliegenden Verletzungen, Einschränkungen und insbesondere auch der Dauer der Krankschreibung hielt das Gericht hier ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 600,00 € für angemessen, aber auch ausreichend.

Die Klage war daher begründet.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 2, 708 Nr. 11,711 ZPO; 286, 288, BGB.

 

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