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Verkehrsunfall: Überfahren eines Kleinkindes beim Rückwärtsfahren

OLG Frankfurt, Az.: 15 U 77/96, Urteil vom 10.04.1997

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Marburg vom 13. März 1996 wird zurückgewiesen.

Die Beklagten haben die Kosten der Berufung als Gesamtschuldner zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer der Beklagten wird auf 18.000 DM festgesetzt.

Tatbestand

Verkehrsunfall: Überfahren eines Kleinkindes beim Rückwärtsfahren
Symbolfoto: Tidarat / Bigstock

Durch das angefochtene Urteil sind die Beklagten verurteilt worden, an den Kläger als Gesamtschuldner ein Schmerzensgeld von 13.000 DM zu zahlen, weil der bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherte Beklagte zu 1) am 14.12.1994 als Fahrer seines Pkw Opel Calibra den seinerzeit drei Jahre und zehn Monate alten Kläger in der Straße K. in B. E. beim Rückwärtsfahren überfahren und erheblich verletzt hat. Darüber hinaus hat das Landgericht festgestellt, daß die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm aus diesem Verkehrsunfall künftig entstehen, soweit seine Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Gegen das ihnen am 21. März 1996 zugestellte Urteil, auf das ergänzend verwiesen wird, haben die Beklagten am Montag, dem 22. April 1996, Berufung eingelegt, die sie am 22. Mai 1996 begründet haben.

Die Beklagten beanstanden die rechtliche Würdigung des Landgerichts. Sie meinen, den Beklagten zu 1) treffe kein Verschulden am Zustandekommen des Unfalles.

Die Beklagten beantragen, das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage vollständig abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig. In der Sache hat sie aber keinen Erfolg, weil das angefochtene Urteil richtig ist.

Der Erstbeklagte, der das Unfallfahrzeug gesteuert hat, ist nach §§ 823 Abs. 1, Abs. 2, 847 BGB i.V.m. § 3 Abs. 2 a, 9 Abs. 5 StVO, verpflichtet, dem Kläger sämtlichen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihm aufgrund des Unfalles vom 14.12.1994 entstanden ist und noch entstehen wird. Die Beklagte zu 2) haftet als Haftpflichtversicherer des Beklagten zu 1) neben diesem im gleichen Umfang als Gesamtschuldnerin, allerdings im Rahmen der Höchstsätze des Pflichtversicherungsgesetzes, § 3 Nrn. 1, 2 PflVersG.

Der Erstbeklagte hat bei dem Unfall am 14.12.1994 den Körper und die Gesundheit des Klägers schuldhaft verletzt. Denn der Unfall beruht darauf, daß der Erstbeklagte in vorwerfbarer Weise gegen § 3 Abs. 2 a StVO verstoßen hat. Nach dieser Vorschrift, bei der es sich um ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB handelt, müssen sich Fahrzeugführer gegenüber Kindern so verhalten, daß deren Gefährdung ausgeschlossen ist. Beispielhaft verlangt das Gesetz als Vorsichtsmaßnahme gegenüber Kindern die Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und Herstellung der Bremsbereitschaft. Diesen Anforderungen hat das zum Unfall führende Verhalten des Erstbeklagten am 14.12.1994 nicht genügt. Die genannten Sorgfaltspflichten setzen zwar grundsätzlich voraus, daß der Kraftfahrer ein Kind tatsächlich wahrnehmen kann oder daß nach den äußeren Umständen Anlaß zur Besorgnis besteht, ein Kind könne plötzlich in die Fahrbahn laufen. Den Beklagten ist auch darin zuzustimmen, daß der Bundesgerichtshof wiederholt darauf hingewiesen hat, daß die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines Kraftfahrzeugführers nicht überspannt werden dürfen und daß auch gegenüber Kindern der Vertrauensgrundsatz gilt, so daß der Fahrer besondere Vorkehrungen für seine Fahrweise nur dann treffen muß, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer Gefährdung führen können (vgl. BGH VersR 1994, 326, 327 m.w.N.). Selbst wenn man aber von dem Vorbringen der Beklagten ausgeht, der Erstbeklagte habe den Kläger vor der Kollision überhaupt nicht gesehen, weil dieser ganz plötzlich hinter einer Fichtenhecke hervorgekommen und auf die Straße gelaufen sei, es könne nicht einmal festgestellt werden, daß der Erstbeklagte den Kläger habe erkennen können, weil er nach den örtlichen Gegebenheiten praktisch unerkennbar für den Fahrzeugführer auf die Straße habe gelangen können, vermag dies den Erstbeklagten nicht zu entlasten. Vielmehr hat bereits das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zu Recht darauf hingewiesen, daß der Erstbeklagte wegen des hier unstreitig nur wenige Meter vom Unfallort entfernt aufgestellten Gefahrzeichens 136 zu § 40 StVO – „Kinder“ – die höchste Sorgfalt im Sinne des § 3 Abs. 2 a StVO hätte beachten müssen. Dieses Zeichen hat nämlich zur Folge, daß der Erstbeklagte auch ohne jeden Anhaltspunkt für eine konkrete Gefährdung, der hier im übrigen schon wegen der ihm bekannten Nähe des Kindergartens gegeben war, sein Fahrverhalten in gleicher Weise hätte einrichten müssen. Dieses Gefahrzeichen weist den Kraftfahrer ja gerade darauf hin, daß er mit dem plötzlichen Betreten der Fahrbahn durch Kinder rechnen und deshalb wie bei einer konkreten Gefahrenlage im Sinne des § 3 Abs. 2 a StVO seine Fahrweise so einrichten muß, daß eine vermeidbare Gefährdung von Kindern ausgeschlossen ist (vgl. BGH a.a.O.).

Mit der somit gebotenen Sorgfalt war unvereinbar, daß der Erstbeklagte es unternommen hat, rückwärts aus der Straße K. herauszufahren. Das Rückwärtsfahren mit einem Kraftfahrzeug ist ein besonders gefährliches Fahrmanöver, insbesondere wegen der damit regelmäßig einhergehenden Schwierigkeiten, den Verkehrsraum, in den das Kraftfahrzeug rückwärts hineinfährt, zuverlässig zu beobachten. Wegen der dabei auftretenden Gefahren ist das Rückwärtsfahren auf das unbedingt Notwendige zu beschränken. Es ist nach § 9 Abs. 5 StVO grundsätzlich nur zulässig, wenn eine Gefährdung anderer ausgeschlossen ist (vgl. Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 33. Aufl., § 9 StVO, Rdn. 51 m.w.N.). Die Gefährlichkeit des Rückwärtsfahrens wird durch die Regelung in § 9 Abs. 5 letzter Halbsatz StVO unterstrichen, wonach der rückwärtsfahrende Kraftfahrer sich einweisen lassen muß, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf andere Weise nicht auszuschließen ist.

Der Erstbeklagte hätte vorliegend die Straße K. nicht rückwärtsfahrend verlassen müssen. Wie er selbst in seiner Stellungnahme gegenüber der Staatsanwaltschaft vom 16.02.1995 (Bl. 17 der Beiakten 11 Js 299.7/95 StA Marburg) ausgeführt hat, hätte er auch bis zum Ende der Straße, die eine Sackgasse ist, fahren und dort wenden können, um die Straße K. dann vorwärtsfahrend zu verlassen. Von seinem Parkplatz in der Nähe des Kindergartens bis zur Einmündung der Straße K. in die Landstraße waren es nach den Fotografien in den Beiakten (Lichtbildmappe Bl. 9 der Beiakte) zwar nur etwa 30 bis 40 m, weshalb es verständlich erscheint, daß der Erstbeklagte die Straße kurzerhand in Rückwärtsfahrt verlassen wollte, statt bis zu deren Ende zu fahren, um dort zu wenden. Dennoch verstieß der Erstbeklagte mit der Rückwärtsfahrt schuldhaft gegen die ihm nach §§ 3 Abs. 2 a, 9 Abs. 5 StVO obliegenden Verpflichtungen. Denn die Rückwärtsfahrt war nicht notwendig und im Hinblick auf die Möglichkeit des Auftauchens von Kleinkindern, womit der Erstbeklagte – wie ausgeführt – jeder Zeit rechnen mußte, und darüber hinaus auch wegen der Bauart des vom Erstbeklagten gefahrenen Pkw Opel Calibra besonders gefährlich. Denn dieses Fahrzeug hat eine hochgezogene Heckpartie, wodurch die Sicht nach hinten so eingeschränkt ist, daß Kleinkinder vollkommen verdeckt bleiben können, obwohl sie die Fahrbahn längst betreten haben. Angesichts der vorstehenden Gegebenheiten, die dem Erstbeklagten sämtlich bekannt waren, hätte er sich nach §§ 3 Abs. 2 a, 9 Abs. 5 StVO auf die Möglichkeit des plötzlichen Auftauchens von Kleinkindern in der Weise einrichten müssen, daß er das Rückwärtsfahren unterließ und statt dessen sein Fahrzeug am Ende der Sackgasse K. wendete. Denn nur bei Vorwärtsfahrt war er hinreichend zuverlässig in der Lage, den Verkehrsraum vor seinem Fahrzeug zu beobachten und durch langsame Geschwindigkeit und ständige Bremsbereitschaft auf erkannte Gefahren zu reagieren. Durch das Rückwärtsfahren hat der Erstbeklagte sich dagegen von vornherein in eine Situation gebracht, in der er mangels Erkennbarkeit eines die Straße betretenden Kleinkindes möglicherweise überhaupt nicht mehr reagieren konnte. Genau diese Gefahr hat sich vorliegend verwirklicht; denn nach seiner eigenen Darstellung hat der Erstbeklagte den verunglückten Kläger nicht einmal bemerkt, bevor er ihn überfahren hat. Da dies nach den Umständen nur auf der durch das Rückwärtsfahren bedingten eingeschränkten Sicht beruht haben kann, ist auch die Frage der Kausalität der Pflichtwidrigkeit des Beklagten zu bejahen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, daß der Unfall auch geschehen wäre, wenn der Erstbeklagte sich pflichtgemäß verhalten, die Straße K. also in Vorwärtsfahrt verlassen hätte, sind nicht gegeben. Im Gegenteil spricht die sich aus der Unfallskizze (Bl. 12 der Beiakten) ergebende Tatsache, daß der Erstbeklagte sich zum Zeitpunkt der Kollision mit seinem Fahrzeug in einem Seitenabstand von mindestens 1,45 m zum – in Vorwärtsfahrt gesehen – rechten Fahrbahnrand befand, von wo aus der Kläger die Straße betreten hat, dafür, daß der Erstbeklagte unter Berücksichtigung der bei Vorwärtsfahrt gegebenen guten Sichtmöglichkeiten den Kläger hätte erkennen und bei der gebotenen langsamen Fahrweise rechtzeitig unfallverhütend hätte reagieren können. Insoweit möglicherweise gegebene Unsicherheiten gingen im übrigen nach allgemeinen Grundsätzen zu Lasten der Beklagten.

Der Erstbeklagte handelte schuldhaft. Für sein Verschulden spricht angesichts der sich aus §§ 3 Abs. 2 a, 9 Abs. 5 StVO ergebenden Sorgfaltsanforderungen bereits der erste Anschein. Im übrigen hätte er bei der gebotenen Überprüfung seines Verhaltens erkennen können, daß von dem geplanten Fahrmanöver vermeidbare Gefahren für kleine Kinder ausgingen.

Die Höhe des vom Landgericht zugebilligten Schmerzensgeldes ist angesichts der vom Kläger erlittenen Verletzungen keinesfalls übersetzt. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen im landgerichtlichen Urteil verwiesen. Auch dem Feststellungsantrag hat das Landgericht zu Recht stattgegeben.

Nach allem ist die Berufung mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

Die weiteren Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 708 Nr. 10, 713, 546 Abs. 2 Satz 1 ZPO.

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