Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Der Fall des provozierten Auffahrunfalls
- Der Unfallhergang auf der Landstraße
- Die Klage auf Schadensersatz
- Das Urteil der Vorinstanz: Landgericht Koblenz
- Die Berufung der Klägerin vor dem OLG Koblenz
- Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz
- Das Kernproblem: Abbremsen als Maßregelung
- Die Konsequenz: Keine Haftung der Beklagten
- Bedeutung für Betroffene: Vorsicht bei grundlosem Bremsen
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Benötigen Sie Hilfe?
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was bedeutet „gefährliches Bremsverhalten“ im Straßenverkehrsrecht und welche Konsequenzen hat es?
- Wann spricht man bei einem Auffahrunfall von einer Alleinschuld des Auffahrenden und wann nicht?
- Was bedeutet „grobe Fahrlässigkeit“ im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall und wie wirkt sie sich auf Schadensersatzansprüche aus?
- Was ist die sogenannte „Betriebsgefahr“ eines Fahrzeugs und wie wird sie bei der Haftungsfrage nach einem Unfall berücksichtigt?
- Welche Beweismittel sind entscheidend, um nachzuweisen, dass ein plötzliches Bremsmanöver unberechtigt war und den Unfall verursacht hat?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Hinweise und Tipps
- Das vorliegende Urteil
Urteil Az.: 12 U 1518/21 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Zum vorliegendenDas Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht (OLG) Koblenz
- Datum: 16.12.2021
- Aktenzeichen: 12 U 1518/21
- Verfahrensart: Berufungsverfahren (angekündigter Beschluss zur Berufungszurückweisung)
- Rechtsbereiche: Verkehrsrecht, Schadensersatzrecht
Beteiligte Parteien:
- Kläger: Eine Unfallbeteiligte, die Schadensersatz forderte und gegen die Abweisung ihrer Klage durch das Landgericht Berufung eingelegt hat.
- Beklagte: Unfallgegner, von denen die Klägerin Schadensersatz wegen der Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs verlangte.
Worum ging es in dem Fall?
- Sachverhalt: Am 09.09.2019 ereignete sich ein Verkehrsunfall auf der L … bei …[Z]. Die Klägerin verklagte die Beklagten auf Schadensersatz (Zahlung an ihre Versicherung und an sich selbst). Das Landgericht Koblenz wies die Klage ab. Dagegen legte die Klägerin Berufung beim OLG Koblenz ein.
- Kern des Rechtsstreits: Es ging um die Frage, ob die Beklagten für den Unfall mithaften müssen, weil von ihrem Fahrzeug eine grundsätzliche Gefahr (Betriebsgefahr) ausging, oder ob die Klägerin den Unfall allein verschuldet hat.
Was wurde entschieden?
- Entscheidung: Das OLG Koblenz kündigte in einem Beschluss an, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen, da sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg habe.
- Begründung: Das Gericht ist nach Prüfung der Unterlagen und des Gutachtens eines Sachverständigen davon überzeugt, dass die Klägerin den Unfall Grob verkehrswidrig, möglicherweise sogar absichtlich, verursacht hat. Dieses schwerwiegende Verschulden der Klägerin wiegt so stark, dass eine eventuelle Mithaftung der Beklagten aufgrund der Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs vollständig entfällt.
- Folgen: Die Parteien bekamen die Möglichkeit, bis zum 06.01.2022 Stellung zu nehmen. Bleibt es bei der Einschätzung des Gerichts, wird die Berufung endgültig zurückgewiesen und die Entscheidung des Landgerichts (Abweisung der Klage) bestätigt.
Der Fall vor Gericht
Der Fall des provozierten Auffahrunfalls

Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz hat in einem bemerkenswerten Beschluss vom 16. Dezember 2021 (Az.: 12 U 1518/21) eine wegweisende Entscheidung zu einem Verkehrsunfall getroffen. Im Kern ging es um die Frage, wer die Schuld trägt, wenn ein Autofahrer abrupt und ohne zwingenden Grund bremst und der nachfolgende Verkehrsteilnehmer auffährt. Das Gericht bestätigte die Auffassung der Vorinstanz, dass die Klägerin den Unfall selbst Grob fahrlässig, wenn nicht sogar vorsätzlich, herbeigeführt hat.
Der Unfallhergang auf der Landstraße
Am 9. September 2019 ereignete sich der Unfall auf einer Landstraße (L…). Die Klägerin war mit ihrem Pkw unterwegs. Der Beklagte zu 1) fuhr mit einem Lkw-Gespann. Zuvor war der Lkw aus einer untergeordneten Zufahrt auf die Landstraße eingebogen. Die Klägerin überholte den Lkw nach diesem Einbiegevorgang. Kurz darauf bremste sie ihr Fahrzeug stark ab, woraufhin der Lkw auffuhr.
Die Klage auf Schadensersatz
Die Klägerin forderte Schadensersatz von den Beklagten (Fahrer und vermutlich Halter/Versicherer des Lkw). Sie verlangte über 10.000 Euro für ihre Vollkaskoversicherung, rund 2.000 Euro für sich selbst sowie die Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten. Sie argumentierte, der Lkw-Fahrer trage die Verantwortung für den Auffahrunfall.
Das Urteil der Vorinstanz: Landgericht Koblenz
Das Landgericht Koblenz hatte die Klage nach einer Beweisaufnahme, einschließlich eines Sachverständigengutachtens, weitgehend abgewiesen (Urteil vom 09.08.2021, Az. 5 O 16/20). Die Richter kamen zu dem Schluss, dass die Klägerin den Unfall in grob verkehrswidriger Weise selbst verursacht habe. Ihr Verhalten sei so schwerwiegend gewesen, dass eine mögliche Mitschuld der Beklagten aufgrund der Betriebsgefahr des Lkw vollständig dahinter zurücktrete.
Was bedeutet Betriebsgefahr?
Die Betriebsgefahr beschreibt das grundsätzliche Risiko, das von jedem Kraftfahrzeug im Betrieb ausgeht. Selbst ohne direktes Verschulden kann der Halter eines Fahrzeugs für Schäden haften, die durch dessen Betrieb entstehen. Diese Haftung kann jedoch gemindert werden oder ganz entfallen, wenn das Fehlverhalten des Unfallgegners überwiegt.
Die Berufung der Klägerin vor dem OLG Koblenz
Die Klägerin legte Berufung gegen das Urteil des Landgerichts ein. Sie stützte ihre Argumentation maßgeblich auf den sogenannten Anscheinsbeweis. Dieser besagt typischerweise, dass bei einem Auffahrunfall der Auffahrende schuld ist, da er meist entweder zu dicht aufgefahren ist oder unaufmerksam war. Zudem führte sie möglicherweise einen früheren Vorfahrtsverstoß des Lkw-Fahrers beim Einfahren auf die Landstraße an.
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz
Das OLG Koblenz teilte die Auffassung der Klägerin nicht und kündigte an, die Berufung als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen (§ 522 Abs. 2 ZPO). Der Senat war einstimmig der Überzeugung, dass die Entscheidung des Landgerichts korrekt war. Die Richter sahen das Verhalten der Klägerin ebenfalls als mindestens grob verkehrswidrig, wenn nicht gar vorsätzlich schädigend an.
Anscheinsbeweis greift nicht
Das Gericht stellte klar, dass der Anscheinsbeweis hier nicht anwendbar sei. Zwar spreche bei typischen Auffahrunfällen vieles für ein Verschulden des Hintermanns. Dieser Grundsatz gelte aber dann nicht, wenn der Vorausfahrende ohne zwingenden verkehrsbedingten Grund stark abbremst. Genau das war nach Überzeugung des Gerichts hier der Fall. Das grundlose Bremsen der Klägerin durchbrach die Typizität des Unfallgeschehens.
Früherer möglicher Vorfahrtsverstoß irrelevant
Auch das Argument eines möglichen früheren Vorfahrtsverstoßes des Lkw-Fahrers beim Auffahren auf die Landstraße verwarf das OLG. Selbst wenn ein solcher Verstoß stattgefunden hätte, sei er nicht Ursächlich für den späteren Auffahrunfall geworden. Die Kollision ereignete sich erst, nachdem die Klägerin den Lkw bereits überholt hatte und dann bremste. Ein Zusammenhang zwischen dem Einfahren und dem späteren Bremsmanöver sei nicht erkennbar.
Widersprüchliche Angaben der Klägerin
Das Gericht merkte zudem an, dass die Klägerin in der ersten Instanz ihr Bremsmanöver anders begründet hatte als in der Berufung. Zunächst sprach sie von einem Kontrollverlust nach einem Ausweichmanöver wegen Gegenverkehrs. Später schien sie eher eine Schreckreaktion aufgrund des Einfahrvorgangs des Lkw andeuten zu wollen. Diese Widersprüche schwächten ihre Position zusätzlich.
Das Kernproblem: Abbremsen als Maßregelung
Im Ergebnis sahen beide Gerichte das plötzliche, grundlose Abbremsen der Klägerin als entscheidende Unfallursache an. Ein solches Manöver, das möglicherweise als bewusste Maßregelung des nachfolgenden Lkw-Fahrers gedacht war, stellt ein äußerst gefährliches und grob verkehrswidriges Verhalten dar. Die Eigenverantwortung der Klägerin für den Unfall wog so schwer, dass die Betriebsgefahr des Lkw dahinter vollständig zurücktrat.
Die Konsequenz: Keine Haftung der Beklagten
Da das Fehlverhalten der Klägerin als alleinige und schwerwiegende Unfallursache gewertet wurde, sahen die Gerichte keine Grundlage für eine Haftung der Beklagten. Die Klage auf Schadensersatz wurde zu Recht abgewiesen, und die Berufung der Klägerin hatte nach Einschätzung des OLG Koblenz keine Aussicht auf Erfolg.
Bedeutung für Betroffene: Vorsicht bei grundlosem Bremsen
Hohes Risiko für Vorausfahrende
Dieses Urteil sendet ein klares Signal an alle Verkehrsteilnehmer: Wer grundlos oder aus Ärger stark abbremst, um einen nachfolgenden Fahrer zu maßregeln oder zu provozieren, handelt grob verkehrswidrig und riskiert, im Falle eines Auffahrunfalls die volle alleinige Schuld zugesprochen zu bekommen. Die sonst oft greifende Vermutung, der Auffahrende sei schuld (Anscheinsbeweis), wird in solchen Fällen regelmäßig erschüttert.
Grenzen des Anscheinsbeweises
Der Fall verdeutlicht die Grenzen des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfällen. Er gilt nur für typische Situationen. Ein bewusst herbeigeführtes, abruptes Bremsmanöver ohne verkehrsbedingte Notwendigkeit ist keine solche typische Situation. Der Vorausfahrende kann sich dann nicht darauf verlassen, dass automatisch der Hintermann haftet.
Beweislast kann sich umkehren
In solchen Konstellationen muss der Vorausfahrende unter Umständen nachweisen, dass er einen triftigen Grund für sein starkes Bremsen hatte. Gelingt ihm das nicht und kann stattdessen ein grundloses oder gar provozierendes Bremsen nachgewiesen werden (z.B. durch Zeugen, Dashcam-Aufnahmen oder unfallanalytische Gutachten), droht ihm die volle Haftung für den entstandenen Schaden.
Fazit für die Praxis
Autofahrer sollten niemals aus Verärgerung oder zur „Erziehung“ anderer Verkehrsteilnehmer abrupt bremsen. Bremsvorgänge müssen stets durch die Verkehrssituation gerechtfertigt sein. Wer sich provozieren lässt und unüberlegt reagiert, riskiert nicht nur gefährliche Unfälle, sondern auch erhebliche rechtliche und finanzielle Nachteile.
Die Schlüsselerkenntnisse
Das Gericht hat einer Fahrerin, die zunächst einem LKW ausweichen musste, keinen Schadensersatz zugesprochen, da sie nach dem Ausweichen absichtlich stark abgebremst hatte, um den LKW-Fahrer zu „disziplinieren“. Diese mutwillige Vollbremsung ohne Verkehrsnotwendigkeit wurde als grob verkehrswidrig oder sogar vorsätzlich schädigend eingestuft, wodurch der Auffahrunfall verursacht wurde. Das Urteil zeigt, dass selbst bei einem Auffahrunfall die Haftung vollständig beim Vorausfahrenden liegen kann, wenn dieser durch ein provozierendes Bremsmanöver den Unfall herbeiführt.
Benötigen Sie Hilfe?
Haftung bei provoziertem Auffahrunfall
Wenn Sie als Autofahrer in eine Situation geraten, in der Sie entweder abrupt bremsen oder auf einen vorausfahrenden Wagen auffahren, kann dies schwerwiegende rechtliche Konsequenzen haben. Insbesondere das grundlose Bremsen kann als grob verkehrswidriges Verhalten gewertet werden und zu einer vollen Haftung für den entstandenen Schaden führen.
Unsere Kanzlei unterstützt Sie bei der Bewältigung von Rechtsfragen rund um Verkehrsunfälle. Wir analysieren Ihren Fall sorgfältig und bieten Ihnen sachkundige Beratung, um Ihre Interessen wirksam zu vertreten und Ihre Rechte zu schützen. Wir helfen Ihnen, die komplexe Rechtslage zu verstehen und die beste Vorgehensweise zu bestimmen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was bedeutet „gefährliches Bremsverhalten“ im Straßenverkehrsrecht und welche Konsequenzen hat es?
Im Straßenverkehr gilt der Grundsatz, dass Sie nicht ohne einen zwingenden Grund stark bremsen dürfen. Dies ist in § 4 Absatz 1 Satz 2 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) festgelegt. „Gefährliches Bremsverhalten“ liegt also vor, wenn ein Fahrer absichtlich oder unnötig stark bremst und dadurch andere Verkehrsteilnehmer gefährdet.
Wann ist Bremsen „gefährlich“?
Nicht jedes starke Bremsen ist automatisch verboten oder gefährlich. Wenn Sie beispielsweise stark bremsen müssen, um einen Unfall zu verhindern – etwa weil plötzlich ein Kind auf die Straße läuft, ein anderes Fahrzeug unerwartet ausschert oder ein Tier die Fahrbahn kreuzt – ist dies erlaubt und notwendig.
Gefährlich und unzulässig wird das Bremsen jedoch dann, wenn es ohne einen solchen triftigen Grund geschieht. Entscheidend ist also, ob das starke Bremsen objektiv notwendig war oder ob es willkürlich, aus Ärger oder zur Maßregelung anderer erfolgte.
Beispiele für gefährliches Bremsverhalten
Typische Situationen, in denen ein Bremsmanöver als gefährlich eingestuft werden kann, sind:
- Das „Ausbremsen“: Sie bremsen plötzlich und stark, um einen dicht auffahrenden Hintermann zu „erziehen“ oder zu provozieren.
- Erzwingen von Abstand: Sie bremsen ohne konkrete Gefahr abrupt ab, nur weil Sie möchten, dass der nachfolgende Verkehr mehr Abstand hält.
- Bremsen aus Ärger oder Protest: Sie bremsen stark, weil Sie sich über das Verhalten eines anderen Fahrers (z.B. beim Überholen) geärgert haben.
- Vortäuschen einer Notwendigkeit: Starkes Bremsen an einer Stelle, an der es keinen ersichtlichen Grund dafür gibt (z.B. auf freier Strecke ohne Hindernisse).
Mögliche Konsequenzen
Gefährliches, grundloses Bremsen kann verschiedene rechtliche Folgen haben:
- Bußgeld und Punkte: Ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO stellt eine Ordnungswidrigkeit dar. Wer ohne zwingenden Grund stark bremst, muss mit einem Bußgeld rechnen. Kommt es dadurch zu einer Gefährdung oder gar einem Unfall, fallen Bußgeld und die Anzahl der Punkte in Flensburg entsprechend höher aus.
- Mithaftung bei einem Unfall: Kommt es aufgrund des grundlosen Bremsens zu einem Auffahrunfall, trägt normalerweise der Auffahrende die Hauptschuld, da er nicht genügend Sicherheitsabstand eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO). Wer jedoch nachweislich ohne zwingenden Grund stark gebremst hat, kann eine erhebliche Mitschuld oder sogar die Alleinschuld am Unfall zugesprochen bekommen. Gerichte prüfen in solchen Fällen genau, ob das Bremsmanöver notwendig war.
- Strafrechtliche Folgen (in Ausnahmefällen): Wenn das Bremsen besonders rücksichtslos und mit der Absicht erfolgt, andere gezielt zu gefährden oder zu nötigen (z.B. um einen Unfall zu provozieren), können unter Umständen auch Straftatbestände wie Nötigung (§ 240 StGB) oder ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) erfüllt sein. Dies ist jedoch seltener und erfordert einen Nachweis des Vorsatzes.
- Schadensersatzansprüche: Unabhängig von Bußgeldern oder strafrechtlichen Folgen kann der Geschädigte (z.B. der Auffahrende) zivilrechtliche Schadensersatzansprüche (z.B. für Reparaturkosten, Mietwagen) und gegebenenfalls Schmerzensgeld gegen den grundlos Bremsenden geltend machen, wenn diesem eine Mitschuld nachgewiesen wird.
Es ist also wichtig zu verstehen, dass starkes Bremsen nur dann erlaubt ist, wenn ein echter, zwingender Grund vorliegt. Grundloses oder willkürliches Bremsen ist verboten und kann weitreichende rechtliche und finanzielle Folgen haben.
Wann spricht man bei einem Auffahrunfall von einer Alleinschuld des Auffahrenden und wann nicht?
Bei einem Auffahrunfall gehen Gerichte zunächst oft davon aus, dass der Auffahrende nicht den erforderlichen Sicherheitsabstand eingehalten oder nicht aufmerksam genug war. Dies nennt man Anscheinsbeweis. Es spricht also der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende die alleinige Schuld trägt.
Der Anscheinsbeweis: Was bedeutet das?
Der Anscheinsbeweis ist eine Art Beweiserleichterung. Er basiert auf der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Auffahrunfälle typischerweise durch zu geringen Abstand oder Unaufmerksamkeit des Hintermanns verursacht werden (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsordnung – StVO). Das Gericht vermutet daher zunächst, dass der Auffahrende den Unfall verschuldet hat, ohne dass dies im Detail bewiesen werden muss.
Wann der Anschein nicht (oder nicht allein) gegen den Auffahrenden spricht
Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar. Der Anscheinsbeweis gilt nicht oder kann erschüttert werden, wenn besondere Umstände vorliegen, die einen anderen Unfallhergang nahelegen. Dann spricht man nicht automatisch von einer Alleinschuld des Auffahrenden.
Ein wichtiger Fall ist das grundlose starke Bremsen des Vorausfahrenden. Laut § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO darf der Vorausfahrende nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen. Ein zwingender Grund wäre zum Beispiel ein plötzlich auf die Straße laufendes Kind oder ein Hindernis. Ein Bremsen ohne nachvollziehbaren Anlass (z.B. um jemanden zu maßregeln oder aus Schreckhaftigkeit ohne konkrete Gefahr) kann dazu führen, dass den Vorausfahrenden eine Mitschuld oder sogar die Alleinschuld trifft.
Weitere Beispiele, in denen der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden nicht greift oder erschüttert werden kann:
- Der Vorausfahrende wechselt unmittelbar vor dem Unfall abrupt die Spur.
- Der Vorausfahrende bleibt ohne ersichtlichen Grund an einer Stelle stehen, an der man damit nicht rechnen muss (z.B. auf freier Strecke einer Autobahn).
- Die Bremslichter des vorausfahrenden Fahrzeugs waren defekt und der Auffahrende konnte die Bremsung deshalb nicht rechtzeitig erkennen.
Die Frage des Beweises
Entscheidend ist, wer was beweisen kann. Spricht der Anscheinsbeweis zunächst gegen den Auffahrenden, muss dieser beweisen, dass ein atypischer Umstand vorlag – also zum Beispiel, dass der Vordermann grundlos stark gebremst hat. Gelingt ihm dieser Beweis, kann die Schuldfrage anders bewertet werden. Gelingt der Beweis nicht, bleibt es in der Regel bei der (vollen) Haftung des Auffahrenden. Zeugenaussagen oder technische Gutachten können hierbei eine Rolle spielen.
Mögliche Folgen: Mithaftung
Selbst wenn der Vorausfahrende nachweislich grundlos gebremst hat, kann den Auffahrenden dennoch eine Mitschuld (Mithaftung) treffen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn er trotz des Fehlers des Vordermanns den Unfall hätte vermeiden können, wäre er aufmerksamer gewesen oder hätte er mehr Abstand gehalten. Die Gerichte entscheiden dann anhand der Umstände des Einzelfalls, wie die Schuld verteilt wird (z.B. 50/50, 70/30 etc.).
Es ist also nicht korrekt, dass bei einem Auffahrunfall immer automatisch der Auffahrende allein schuld ist. Das Verhalten des Vorausfahrenden, insbesondere ein grundloses Bremsen, kann die Schuldfrage maßgeblich beeinflussen.
Was bedeutet „grobe Fahrlässigkeit“ im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall und wie wirkt sie sich auf Schadensersatzansprüche aus?
Im Straßenverkehr müssen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer vorsichtig und rücksichtsvoll sein. Juristisch spricht man hier von der Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt. Wenn jemand diese Sorgfalt verletzt und dadurch ein Schaden entsteht, handelt diese Person fahrlässig. Das Gesetz unterscheidet dabei zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit.
Der Unterschied: Einfach oder Grob?
- Einfache Fahrlässigkeit: Hierbei lässt jemand die übliche Sorgfalt außer Acht, die in der jeweiligen Situation erforderlich ist. Es handelt sich um ein Versehen, das gewissermaßen „passieren kann“. Stellen Sie sich vor, Sie übersehen kurzzeitig ein anderes Fahrzeug beim Einparken oder sind einen Moment unaufmerksam und fahren bei geringer Geschwindigkeit leicht auf. Das wäre typischerweise einfache Fahrlässigkeit.
- Grobe Fahrlässigkeit: Das ist deutlich mehr als ein einfaches Versehen. Grob fahrlässig handelt, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Es geht um Fehler, die unter den gegebenen Umständen schlechthin unentschuldbar sind und jedem hätten einleuchten müssen. Man missachtet also grundlegende und offensichtliche Sicherheitsregeln in einer Weise, die als besonders rücksichtslos oder verantwortungslos erscheint.
Beispiele für grobe Fahrlässigkeit im Straßenverkehr
Gerichte haben grobe Fahrlässigkeit beispielsweise in folgenden Situationen angenommen:
- Fahren unter erheblichem Alkohol- oder Drogeneinfluss.
- Überfahren einer roten Ampel, die bereits eine Weile Rot gezeigt hat („qualifizierter Rotlichtverstoß“).
- Deutliche Geschwindigkeitsüberschreitungen, insbesondere innerorts, an Schulen oder bei schlechten Sichtverhältnissen.
- Intensive Handynutzung während der Fahrt, wie das Tippen von Nachrichten bei hohem Verkehrsaufkommen.
- Ein völlig grundloses, abruptes und starkes Bremsen auf freier Strecke, beispielsweise um einen nachfolgenden Fahrer zu maßregeln. Ein solches gefährliches Bremsverhalten kann als grob fahrlässig gewertet werden, da es die Gefahr eines Auffahrunfalls bewusst und ohne Not heraufbeschwört.
Ob im konkreten Fall grobe Fahrlässigkeit vorliegt, muss immer anhand aller Umstände des Einzelfalls bewertet werden.
Auswirkungen auf Schadensersatzansprüche
Die Einstufung als „grob fahrlässig“ hat erhebliche Konsequenzen, vor allem im Versicherungsrecht:
- Ansprüche gegen den Verursacher (dessen Kfz-Haftpflichtversicherung):
- Die Kfz-Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers muss den Schaden des Opfers grundsätzlich auch dann bezahlen, wenn der Fahrer grob fahrlässig gehandelt hat.
- Aber: Die Versicherung kann unter bestimmten Voraussetzungen den eigenen Versicherungsnehmer (den Fahrer) in Regress nehmen, das heißt, sie kann sich einen Teil des gezahlten Schadensersatzes (oft bis zu 5.000 Euro) vom Fahrer zurückholen.
- Ansprüche für den eigenen Schaden (eigene Kaskoversicherung):
- Hier wirkt sich grobe Fahrlässigkeit am stärksten aus. Wenn Sie Ihren eigenen Fahrzeugschaden über Ihre Kaskoversicherung (Voll- oder Teilkasko) abwickeln möchten und diesen Schaden selbst grob fahrlässig verursacht haben, kann die Versicherung ihre Leistung kürzen oder unter Umständen sogar ganz verweigern.
- Die Höhe der Kürzung richtet sich nach der Schwere des Verschuldens. Man spricht hier von einer Quotenbildung.
- Wichtig: Viele neuere Versicherungsverträge enthalten eine Klausel zum „Verzicht auf die Einrede der groben Fahrlässigkeit“. Das bedeutet, die Versicherung zahlt oft trotzdem – Ausnahmen gelten aber meist für Fahrten unter Alkohol/Drogen oder bei Ermöglichung eines Diebstahls. Prüfen Sie hierzu Ihre Versicherungsbedingungen.
- Mitverschulden des Geschädigten:
- Hat der Geschädigte selbst durch eigene grobe Fahrlässigkeit zum Unfall oder zur Schadenshöhe beigetragen (z.B. nicht angeschnallt gewesen, stark überhöhte Geschwindigkeit), werden seine eigenen Schadensersatzansprüche entsprechend gekürzt.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Grobe Fahrlässigkeit ist ein schwerwiegender Vorwurf, der über ein einfaches Versehen weit hinausgeht und dazu führen kann, dass Versicherungen ihre Leistungen erheblich kürzen oder Verursacher stärker zur Verantwortung gezogen werden.
Was ist die sogenannte „Betriebsgefahr“ eines Fahrzeugs und wie wird sie bei der Haftungsfrage nach einem Unfall berücksichtigt?
Die Betriebsgefahr beschreibt das grundsätzliche Risiko, das allein dadurch entsteht, dass ein Kraftfahrzeug (wie ein Auto oder Motorrad) im Straßenverkehr bewegt wird. Fahrzeuge sind potenziell gefährliche Maschinen – allein durch ihre Masse, Geschwindigkeit und technische Beschaffenheit können sie Schäden verursachen, auch ohne dass den Fahrer ein Verschulden trifft.
Stellen Sie sich vor: Ein Auto steht korrekt geparkt am Straßenrand, aber ein technischer Defekt führt dazu, dass Öl ausläuft und ein vorbeigehender Fußgänger darauf ausrutscht und sich verletzt. Obwohl der Fahrer nichts falsch gemacht hat, ging vom Betrieb (auch dem technischen Zustand) des Fahrzeugs eine Gefahr aus.
Diese grundsätzliche Gefahr ist im Gesetz verankert (§ 7 Straßenverkehrsgesetz – StVG). Danach haftet der Halter eines Fahrzeugs für Schäden, die beim Betrieb des Fahrzeugs entstehen. Dies nennt man Gefährdungshaftung: Es kommt nicht darauf an, ob der Halter oder Fahrer Schuld hat, sondern nur darauf, dass der Schaden durch den Betrieb des Fahrzeugs verursacht wurde.
Wie wird die Betriebsgefahr bei der Haftungsverteilung berücksichtigt?
Nach einem Unfall stellt sich die Frage, wer für den entstandenen Schaden aufkommen muss. Hier kommt die Betriebsgefahr ins Spiel, insbesondere wenn mehrere Fahrzeuge beteiligt sind. Die Gerichte wägen dann ab, wie stark die jeweiligen Verursachungsbeiträge der Beteiligten waren (§ 17 StVG).
Dabei wird nicht nur das Verschulden (also Fehler wie zu schnelles Fahren, Vorfahrtsverletzung etc.) berücksichtigt, sondern auch die Betriebsgefahr jedes beteiligten Fahrzeugs.
- Das bedeutet für Sie: Selbst wenn Sie nachweislich keine Schuld am Unfallhergang haben, kann es sein, dass Sie aufgrund der Betriebsgefahr Ihres Fahrzeugs einen Teil des Schadens selbst tragen müssen oder nicht den vollen Ersatz für Ihren eigenen Schaden erhalten.
- Typisches Beispiel: Bei einem einfachen Auffahrunfall hat der Auffahrende meist das Hauptverschulden. Dennoch muss der Vordermann oft eine Quote von 20% bis 30% seines Schadens selbst tragen, weil auch von seinem Fahrzeug eine Betriebsgefahr ausging, die zum Unfallgeschehen beigetragen hat (z.B. allein durch die Anwesenheit auf der Straße).
Wann tritt die Betriebsgefahr zurück?
Die Betriebsgefahr ist nicht immer gleich hoch. Sie kann je nach Fahrzeugtyp, Geschwindigkeit und Verkehrssituation variieren. Wichtiger ist jedoch der Vergleich mit dem Verschulden der Unfallbeteiligten:
- Je größer das Verschulden eines Fahrers ist, desto weniger fällt die reine Betriebsgefahr des anderen ins Gewicht.
- Bei einem besonders groben Verkehrsverstoß des Unfallgegners (z.B. ein schwerer Rotlichtverstoß, Fahren unter starkem Alkoholeinfluss, rücksichtsloses Überholen an unübersichtlicher Stelle) kann dessen Verschulden so schwer wiegen, dass die Betriebsgefahr Ihres Fahrzeugs vollständig dahinter zurücktritt. In solchen Fällen können Sie trotz der abstrakten Gefahr, die von Ihrem Fahrzeug ausging, vollen Schadensersatz erhalten.
Was bedeutet das bei gefährlichem Bremsverhalten?
Der Bezug zum gefährlichen Bremsverhalten ist hier besonders relevant:
- Ein plötzliches, starkes und grundloses Bremsen im fließenden Verkehr stellt einen gefährlichen Eingriff dar und kann als grobes Verschulden gewertet werden. Wer ohne zwingenden Grund stark bremst, provoziert möglicherweise einen Auffahrunfall.
- Kommt es aufgrund eines solchen grundlosen Bremsmanövers zu einem Auffahrunfall, kann die Haftung anders verteilt werden als üblich. Das grobe Verschulden des grundlos Bremsenden kann dazu führen, dass die Betriebsgefahr des Auffahrenden (der ja eigentlich den Sicherheitsabstand einhalten muss) ganz oder teilweise zurücktritt.
- Im Ergebnis kann es also sein, dass der grundlos Bremsende trotz des Auffahrunfalls einen erheblichen Teil oder sogar den gesamten Schaden (auch den des Auffahrenden) tragen muss.
Die genaue Verteilung der Haftung hängt aber immer von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, die von Gerichten bewertet werden müssen. Dazu zählen zum Beispiel die Erkennbarkeit des Bremsvorgangs, der Grund für das Bremsen (falls vorhanden), die gefahrenen Geschwindigkeiten und der eingehaltene Abstand.
Welche Beweismittel sind entscheidend, um nachzuweisen, dass ein plötzliches Bremsmanöver unberechtigt war und den Unfall verursacht hat?
Wenn Sie in einen Auffahrunfall verwickelt sind und vermuten, dass der Vordermann grundlos stark gebremst hat, stehen Sie oft vor der Herausforderung, dies nachzuweisen. Normalerweise spricht der sogenannte Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden. Das bedeutet: Gerichte gehen zunächst davon aus, dass derjenige, der auffährt, unaufmerksam war oder zu wenig Abstand gehalten hat. Um diesen Anschein zu widerlegen und zu zeigen, dass das Bremsmanöver des Vordermanns die eigentliche Unfallursache war, sind bestimmte Beweismittel besonders wichtig.
Entscheidende Beweismittel
Um erfolgreich nachzuweisen, dass ein Bremsmanöver ungerechtfertigt war, können folgende Beweismittel helfen:
- Zeugenaussagen: Unabhängige Zeugen sind oft das wichtigste Beweismittel. Personen, die den Unfall beobachtet haben (andere Autofahrer, Fußgänger, Beifahrer – wobei unabhängige Zeugen oft glaubwürdiger eingestuft werden), können Angaben zum Fahrverhalten beider Beteiligten machen. Entscheidend sind Beobachtungen dazu, ob es einen ersichtlichen Grund für das Bremsen gab (z.B. ein Hindernis, eine rote Ampel), ob die Bremslichter aufleuchteten und wie die allgemeine Verkehrssituation war.
- Dashcam-Aufnahmen: Aufzeichnungen einer Dashcam (aus Ihrem Fahrzeug oder dem eines Zeugen) können den Unfallhergang unmittelbar dokumentieren. Sie können zeigen, ob der Vordermann plötzlich und ohne erkennbaren Grund gebremst hat. Gerichte lassen Dashcam-Aufnahmen als Beweismittel in Unfallprozessen häufig zu, insbesondere wenn es um die Aufklärung des Hergangs geht. Wichtig ist hierbei, dass die Aufnahme datenschutzkonform (meist durch Überschreiben nach kurzer Zeit) erfolgt ist.
- Sachverständigengutachten: Ein technisches Gutachten kann den Unfallhergang rekonstruieren. Ein Sachverständiger kann anhand der Fahrzeugschäden, Bremsspuren und anderer Spuren analysieren, welche Geschwindigkeiten gefahren wurden, wie stark gebremst wurde und ob das Bremsmanöver aus technischer Sicht für die Verkehrssituation plausibel oder vermeidbar war. Solche Gutachten werden oft im Rahmen eines Gerichtsverfahrens eingeholt.
- Polizeiliche Unfallaufnahme: Die Dokumentation durch die Polizei ist eine wichtige Grundlage. Die Polizeiakte enthält in der Regel Angaben der Beteiligten und Zeugen direkt nach dem Unfall, eine Skizze der Unfallsituation, Fotos und eine Beschreibung der Schäden und Spuren (z.B. Bremsspuren). Auch wenn die Polizei keine Schuldfrage klärt, sind diese objektiven Feststellungen für die spätere Rekonstruktion des Hergangs sehr wertvoll.
Was bedeutet „unberechtigt“?
Ein Bremsmanöver gilt als unberechtigt, wenn es ohne zwingenden Grund erfolgte. Die Straßenverkehrsordnung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 StVO) legt fest, dass starkes Bremsen nur dann erlaubt ist, wenn ein wichtiger Grund vorliegt – beispielsweise eine plötzlich auftretende Gefahr, ein Kind auf der Straße oder eine unerwartete Verkehrssituation wie ein Stauende hinter einer Kurve. Ein leichter Schlenker oder das Bremsen für Kleintiere (wie Igel oder Eichhörnchen) wird von Gerichten oft nicht als zwingender Grund anerkannt, wenn dadurch andere Verkehrsteilnehmer gefährdet werden. Ein bewusst provoziertes Bremsmanöver, um einen Auffahrunfall herbeizuführen, ist selbstverständlich ebenfalls unberechtigt.
Bedeutung für Betroffene
Für Sie als möglicherweise Betroffener bedeutet das: Sie tragen in der Regel die Beweislast dafür, dass der Vordermann grundlos stark gebremst hat. Sie müssen also den Anscheinsbeweis, der gegen Sie spricht, aktiv erschüttern. Gelingt dieser Nachweis, kann dies dazu führen, dass der Vordermann eine Mitschuld oder sogar die Alleinschuld am Unfall trägt. Dies ist entscheidend für die Regulierung der Schäden, also wer zum Beispiel die Reparaturkosten oder andere unfallbedingte Kosten übernehmen muss.
Das Sichern von Beweisen direkt am Unfallort ist daher sehr wichtig. Dazu gehört das Notieren von Namen und Adressen von Zeugen und das Machen von Fotos der Unfallsituation und der beteiligten Fahrzeuge.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung ersetzen kann. Haben Sie konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren – wir beraten Sie gerne.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Anscheinsbeweis
Der Anscheinsbeweis ist eine Erleichterung bei der Beweisführung vor Gericht. Er kommt zur Anwendung, wenn ein bestimmter Geschehensablauf nach der allgemeinen Lebenserfahrung typischerweise auf eine bestimmte Ursache oder ein bestimmtes Verschulden hindeutet. Bei Auffahrunfällen spricht der Anscheinsbeweis normalerweise dafür, dass der Auffahrende entweder unaufmerksam war, zu schnell fuhr oder zu wenig Abstand hielt. Im vorliegenden Fall wurde der Anscheinsbeweis aber nicht angewendet, weil das grundlose starke Bremsen der Klägerin kein typischer Unfallverlauf war und den Anschein erschütterte.
Beispiel: Wenn jemand auf gerader, trockener Strecke von der Fahrbahn abkommt, spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass er unaufmerksam oder zu schnell war, ohne dass dies im Detail bewiesen werden muss.
Grob verkehrswidrig
Ein Verhalten im Straßenverkehr ist grob verkehrswidrig, wenn es in besonders schwerwiegender Weise gegen Verkehrsregeln verstößt und oft auch eine erhebliche Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern zeigt. Es handelt sich um einen Verstoß, der objektiv und subjektiv schwer wiegt, also nicht nur ein kleiner Fehler ist. Im beschriebenen Fall stuften die Gerichte das absichtliche, grundlose starke Abbremsen der Klägerin, möglicherweise um den Lkw-Fahrer zu maßregeln, als grob verkehrswidrig ein. Dieses Verhalten wurde als Hauptursache für den Unfall gesehen.
Beispiel: Eine rote Ampel bewusst zu überfahren oder mit stark überhöhter Geschwindigkeit durch eine Spielstraße zu rasen, gilt als grob verkehrswidrig.
Haftung
Haftung bedeutet im juristischen Sinne die Verpflichtung, für einen entstandenen Schaden einzustehen und diesen auszugleichen, meist durch Zahlung von Schadensersatz. Im Verkehrsrecht basiert die Haftung oft auf Verschulden (z.B. Missachtung der Vorfahrt, § 823 BGB) oder auf der sogenannten Betriebsgefahr eines Fahrzeugs (§ 7 StVG). Im konkreten Fall wurde die Haftung der Beklagten (Lkw-Fahrer/Halter) vollständig abgelehnt, weil das Gericht das Fehlverhalten der Klägerin als so schwerwiegend ansah, dass es die alleinige Unfallursache darstellte.
Beispiel: Wenn Sie beim Ausparken ein anderes Auto beschädigen, haften Sie in der Regel für den entstandenen Schaden und müssen die Reparaturkosten übernehmen.
Ursächlich
Ursächlichkeit (auch Kausalität genannt) beschreibt den notwendigen Zusammenhang zwischen einer Handlung und einem eingetretenen Erfolg (z.B. einem Schaden oder einer Verletzung). Eine Handlung ist nur dann rechtlich relevant für einen Schaden, wenn sie dessen Ursache war – also nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Das Gericht verneinte im Fall die Ursächlichkeit eines möglichen früheren Vorfahrtsverstoßes des Lkw für den späteren Auffahrunfall. Der Unfall wurde nicht durch das Einfahren, sondern durch das spätere Bremsmanöver der Klägerin verursacht, nachdem sie den Lkw bereits überholt hatte.
Beispiel: Wenn jemand eine Bananenschale wegwirft und ein anderer darauf ausrutscht und sich verletzt, ist das Wegwerfen der Schale ursächlich für die Verletzung.
Grob fahrlässig
Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn jemand die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Es wird also nicht nur leichtfertig gehandelt (einfache Fahrlässigkeit), sondern es werden Vorsichtsmaßnahmen missachtet, die jedem vernünftigen Menschen in der Situation hätten einleuchten müssen. Im Text bewertete das Gericht das Verhalten der Klägerin (das grundlose Bremsen) als mindestens grob fahrlässig, wenn nicht sogar vorsätzlich. Diese Einstufung führte dazu, dass sie trotz des Auffahrunfalls selbst für ihren Schaden aufkommen muss (vgl. § 254 BGB Mitverschulden).
Beispiel: Wer trotz mehrfacher Warnungen vor Glatteis mit Sommerreifen und überhöhter Geschwindigkeit fährt, handelt grob fahrlässig.
Beweislast
Die Beweislast legt fest, welche Partei in einem Gerichtsverfahren die Tatsachen beweisen muss, auf die sie sich zu ihren Gunsten beruft. Gelingt dieser Beweis nicht, geht dies zulasten der beweisbelasteten Partei. Grundsätzlich muss der Kläger die anspruchsbegründenden Tatsachen beweisen (z.B. das Verschulden des Beklagten). Im Kontext des Falles bedeutet die Erschütterung des Anscheinsbeweises, dass die Klägerin hätte beweisen müssen, dass sie einen zwingenden Grund für ihr starkes Bremsen hatte. Da ihr dies nicht gelang, trug sie die negativen Folgen der Unbeweisbarkeit.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- § 7 Abs. 1 StVG (Halterhaftung): Diese Vorschrift regelt die Gefährdungshaftung des Fahrzeughalters. Sie besagt, dass der Halter eines Kraftfahrzeugs für Schäden haftet, die beim Betrieb seines Fahrzeugs entstehen, auch ohne eigenes Verschulden. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Grundsätzlich könnte der Beklagte als Halter des LKW für die Unfallschäden haften, selbst wenn ihn keine direkte Schuld trifft. Das Gericht sieht diese Haftung hier jedoch aufgrund des grob verkehrswidrigen Verhaltens der Klägerin als ausgeschlossen an.
- § 254 Abs. 1 BGB (Mitverschulden): Dieser Paragraph behandelt das Mitverschulden bei der Schadensentstehung. Er bestimmt, dass wenn der Geschädigte zur Entstehung des Schadens beigetragen hat, dies bei der Schadensersatzpflicht berücksichtigt wird und den Anspruch mindern oder ausschließen kann. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht argumentiert, dass die Klägerin den Unfall durch ihr grob verkehrswidriges Verhalten selbst verursacht hat. Daher wird ihr Mitverschulden als so gravierend angesehen, dass es die Betriebsgefahr des LKW vollständig zurücktreten lässt und sie keinen Schadensersatz erhält.
- § 823 Abs. 1 BGB (Schadensersatzpflicht): Diese Vorschrift ist die Grundlage für Schadensersatzansprüche im deutschen Recht. Sie besagt, dass wer rechtswidrig und schuldhaft das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein anderes Recht eines anderen verletzt, zum Schadensersatz verpflichtet ist. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Klägerin versucht, Schadensersatzansprüche nach § 823 BGB geltend zu machen. Das Gericht verneint jedoch einen Anspruch, da es kein schuldhaftes und rechtswidriges Verhalten des Beklagten sieht, sondern die alleinige Unfallursache im Verhalten der Klägerin.
- § 522 Abs. 2 ZPO (Zurückweisung der Berufung): Diese prozessrechtliche Norm erlaubt dem Berufungsgericht, eine Berufung durch Beschluss zurückzuweisen, wenn sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Dies soll eine schnelle und effiziente Verfahrenserledigung ermöglichen. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das OLG Koblenz hat die Berufung der Klägerin gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen, weil es einstimmig der Meinung war, dass die Berufung keine Chance auf Erfolg hat. Dies bedeutet, dass das Urteil des Landgerichts rechtskräftig wird und die Klägerin keinen Schadensersatz erhält.
Hinweise und Tipps
Praxistipps für Autofahrerinnen und Autofahrer bei Auffahrunfällen
Ein Moment der Unachtsamkeit, eine plötzliche Bremsung – ein Auffahrunfall ist schnell passiert. Oft scheint die Schuldfrage klar: Wer auffährt, haftet. Doch das ist nicht immer der Fall, wie eine Gerichtsentscheidung zeigt.
Hinweis: Diese Praxistipps stellen keine Rechtsberatung dar. Sie ersetzen keine individuelle Prüfung durch eine qualifizierte Kanzlei. Jeder Einzelfall kann Besonderheiten aufweisen, die eine abweichende Einschätzung erfordern.
Tipp 1: Grundloses Bremsen kann teuer werden
Auch wenn Sie vorausfahren: Wenn Sie ohne zwingenden Grund stark bremsen und es dadurch zum Auffahrunfall kommt, können Sie die alleinige Schuld tragen. Gerichte werten ein solches Manöver als grob verkehrswidrig. Die typische Regel „Wer auffährt, hat Schuld“ gilt dann nicht mehr.
⚠️ ACHTUNG: Ein absichtliches oder grundloses Ausbremsen des nachfolgenden Verkehrs kann zur vollen Haftung für den Unfall führen. Überlegen Sie genau, ob ein starker Bremsvorgang wirklich notwendig ist.
Tipp 2: Nicht vorschnell die Schuld anerkennen
Wenn Sie auf ein vorausfahrendes Fahrzeug aufgefahren sind, bedeutet das nicht automatisch, dass Sie allein schuld sind. Prüfen Sie kritisch, ob der Vordermann möglicherweise ohne ersichtlichen Grund gebremst hat. Geben Sie kein Schuldanerkenntnis am Unfallort ab.
Tipp 3: Schweres Verschulden wiegt mehr als die Betriebsgefahr
Grundsätzlich trägt jedes Auto im Verkehr eine „Betriebsgefahr“ – allein durch seine Anwesenheit kann es zu Unfällen beitragen, was oft zu einer Mithaftung führt. Wenn jedoch ein Fahrer den Unfall durch ein besonders schwerwiegendes Fehlverhalten (wie grundloses Bremsen) allein verursacht, kann die Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs rechtlich unbeachtlich werden. Der Verursacher haftet dann voll.
Tipp 4: Beweise sichern ist entscheidend
Ob ein Bremsmanöver gerechtfertigt war oder nicht, muss im Streitfall oft durch Beweise geklärt werden. Sichern Sie daher nach einem Unfall unbedingt Beweise: Machen Sie Fotos von der Unfallsituation und den Schäden, notieren Sie sich Namen und Adressen von Zeugen und beschreiben Sie den Unfallhergang detailliert in einem Unfallbericht. Eine Dashcam-Aufzeichnung kann ebenfalls hilfreich sein.
Beispiel: Notieren Sie sich, ob Sie einen Grund für das Bremsen des Vordermanns erkennen konnten (z.B. ein Tier auf der Straße, eine rote Ampel) oder ob die Bremsung für Sie völlig überraschend und ohne ersichtlichen Anlass erfolgte.
Weitere Fallstricke oder Besonderheiten?
Der im Urteil beschriebene Fall ist eine Ausnahme. In den meisten Fällen von Auffahrunfällen trägt der Auffahrende zumindest eine Mitschuld, oft auch die Alleinschuld. Die „Betriebsgefahr“ des eigenen Fahrzeugs führt häufig zu einer Mithaftungsquote, selbst wenn man nicht aktiv fehlerhaft gefahren ist. Nur bei einem groben Verschulden des Vordermanns, wie dem grundlosen Bremsen, kann dessen Alleinhaftung angenommen werden. Entscheidend ist immer die Frage nach dem Grund für das Bremsen.
✅ Checkliste: Verhalten nach einem Auffahrunfall
- Ruhe bewahren und Unfallstelle sichern (Warnblinker, Warndreieck).
- Verletzten helfen und ggf. Notruf wählen.
- Kein Schuldeingeständnis abgeben.
- Beweise sichern: Fotos, Zeugendaten, Unfallbericht anfertigen (ggf. Polizei rufen).
- Prüfen (lassen), ob der Vordermann möglicherweise grundlos gebremst hat.
Das vorliegende Urteil
OLG Koblenz – Az.: 12 U 1518/21 – Beschluss vom 16.12.2021
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