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Verkehrsunfall -Kollision bei zeitgleich überholenden Fahrzeugen

AG Stockach, Az.: 1 C 159/15, Urteil vom 29.01.2016

1. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger 4863,48 € nebst 5 %-Punkte Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.2.2015 sowie außergerichtliche Anwaltskosten i. H. v. 394,49 € zu bezahlen.

2. Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist für den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger verfolgt mit seiner Klage einen Schadensersatzanspruch nach einem Verkehrsunfall.

Verkehrsunfall -Kollision bei zeitgleich überholenden Fahrzeugen
Symbolfoto: smolaw/Bigstock

Der Kläger fuhr am frühen Abend des 8.1.2015 von Kalkofen in Richtung Selgetsweiler. Vor ihm fuhr die Erstbeklagte mit ihrem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Pkw. Vor der Erstbeklagte wiederum fuhr ein weiterer Verkehrsteilnehmer. Nachdem die Erstbeklagte offensichtlich keine Anstalten machte, den vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer zu überholen, setzte der Kläger wiederum zum Überholen der Erstbeklagten an. Da Letztere ebenfalls zum Überholen des Vorausfahrenden ansetzte, kam es zu einer Streifkollision der beiden Fahrzeuge. Der Kläger beziffert die ihm entstandenen Reparaturkosten gemäß Rechnung des Autohauses Ru. vom 28.1.2015 (AS 9) auf 8117,60 €. Unter Abzug dreier vorgerichtlich bestrittener Positionen gehen die Parteien übereinstimmend von Reparaturkosten i. H. v. 7736,80 € aus. Die Zweitbeklagte regulierte den dem Kläger entstandenen Schaden einschließlich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten auf hälftiger Basis, allerdings unter Zugrundelegung niedrigerer Mietwagenkosten (von 350 € statt der Klägerseits begehrten 665,07 €). Während des Prozesskostenhilfeprüfungsverfahrens bezahlte die Zweitbeklagte auf die Mietwagenkosten weitere 157,54 €. Insgesamt beziffert der Kläger den ihm noch verbliebenen Schaden wie folgt:

Rep. 7.736,80 €

SV 919,31 €

MW 665,07 €

Pauschale 25,00 €

Summe 9.346,18 €

Zahlung – 4.325,16 €

5.021,02 €

weitere Zahlung

Mietwagen – 157,54 €

Rest 4.863,48 €

Außerdem begehrt er vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten aus einem Streitwert von 9346,18 € (887,03 €) abzüglich von der Zweitbeklagten vorgerichtlich bezahlter 492,54 €, also restliche 394,49 €.

Der Kläger meint, die Beklagten seien zum vollständigen Ersatz der ihm entstandenen Schäden verpflichtet. Der Kläger habe zunächst abgewartet und, als die Erstbeklagte keine Anstalten gemacht habe, den Vorausfahrenden zu überholen, links geblinkt und auf die linke Spur gewechselt. Als er die Erstbeklagte fast erreicht gehabt habe, habe diese – unter gleichzeitiger Betätigung des Blinkers – nach links gezogen, ohne dies rechtzeitig und deutlich anzukündigen und ohne sich durch eine entsprechende Rückschau vom Nichtvorhandensein überholender Fahrzeuge zu überzeugen. Die Erstbeklagte habe nach ihrem eigenen Vorbringen nur in die Rückspiegel geblickt, jedoch den gebotenen Schulterblick unterlassen. Da der Kläger offensichtlich im toten Winkel gewesen sei, sei er von der Erstbeklagten übersehen worden. Der Kläger sei nach links ausgewichen, habe gebremst und den Überholvorgang abgebrochen. Gleichwohl sei es zur Streifkollision gekommen. Für den Kläger wiederum sei der Unfall ein unabwendbares Ereignis gewesen.

Der Kläger beantragt, die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an den Kläger 4863,48 € nebst 5 %-Punkte Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.2.2015 sowie außergerichtliche Anwaltskosten i. H. v. 394,49 € zu bezahlen.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Sie meinen, dem Kläger zustehende Ansprüche seien voll umfänglich reguliert. Die Erstbeklagte habe ihre Überholabsicht zunächst durch Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers angekündigt und sodann in den Rück- und Seitenspiegel geblickt. Nachdem nichts zu sehen gewesen sei, habe sie zum Überholen angesetzt. Zur Kollision sei es gekommen, weil der Kläger die Erstbeklagte übersehen habe. Jedenfalls habe aus klägerischer Sicht ein unabwendbares Ereignis nicht vorgelegen. Ein Idealfahrer hätte die Überholabsicht und den Überholvorgang der Erstbeklagten rechtzeitig erkannt. Der Kläger habe sich daher jedenfalls die Betriebsgefahr anrechnen zu lassen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Das Gericht hat über den Unfallhergang Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugen C. und S. sowie durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Terminsprotokoll v. 28.01.16 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger kann von den Beklagten gem. §§ 823, 249 BGB; 5 StVO; 7, 17, 18 StVG; 115 VVG Zahlung weiterer 4863,48 € und weitere vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten von 394,49 €, sowie, unter dem Gesichtspunkt des Verzuges, von Verzugszinsen verlangen.

I.

1. Die Erstbeklagte hat gegen die ihr gemäß § 5 Abs. 4 S. 1 StVO obliegende Verpflichtung verstoßen sich beim Ausscheren zum Überholen so zu verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Dabei bedeutet „ausgeschlossen“ die Beachtung äußerster Sorgfalt (Hentschel, StraßenverkehrsR, 43. Aufl., 2015, § 5 StVO Rdnr. 42, 25 m. w. N.). Das bedeutet, dass derjenige, der zum Zwecke des Überholens ausscheren will, sich vorher vergewissern muss, dass er dies ohne wesentliche Behinderung oder Gefährdung aufgerückter Hintermänner tun kann. Dem Ausscherenden obliegt daher stets eine Rückschaupflicht (Hentschel a.a.O. ). Zur Rückschau ist der Außen- und Innenspiegel zu benutzen unter Berücksichtigung des toten Winkels. Die Sichtverhältnisse aus seinem Pkw (toter Winkel) muss jeder Kraftfahrer kennen und berücksichtigen (Hentschel a.a.O. , § 9 StVO, Rdnr. 24).

Im Streitfall ist die Beklagte schon nach ihrem eigenen Vorbringen ihrer Rückschauverpflichtung nicht nachgekommen. Denn sie hat eingeräumt, das klägerische Fahrzeug weder hinter ihrem Pkw noch auf der linken Fahrbahn gesehen zu haben.

Offensichtlich befand sich das klägerische Fahrzeug im toten Winkel der beklagtenseits benutzten Spiegel. Denn nach den vom Sachverständigen getroffenen Feststellungen hätte die Erstbeklagte das klägerische Fahrzeug zum Zeitpunkt des Beginns ihres Überholvorganges auf der linken Fahrbahn (im Überholen begriffen) sehen können. Damit korrespondieren auch die von den Zeugen gemachten Angaben, wonach das Beklagtenfahrzeug auszuscheren begann, als sich die Fahrzeuge beinahe auf gleicher Höhe befanden. Hätte die Erstbeklagte den gebotenen Schulterblick nach links gewagt, sie hätte das klägerische Fahrzeug zweifelsohne neben dem Ihren sehen können.

2. Außerdem hat die Erstbeklagte gegen die ihr gem. § 5 Abs. 4a) StVO obliegende Verpflichtung verstoßen, das Ausscheren zum Überholen unter Benutzung der Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig und deutlich anzukündigen.

Nach der vorgenannten Vorschrift ist neben der rechtzeitigen und sorgfältigen Rückschau das rechtzeitige und deutliche Zeichengeben mit dem Fahrtrichtungsanzeiger die zweite notwendige Voraussetzung vor dem Ausscheren. Die Zeichen sind zu geben, bis sich der Verkehr darauf einstellen konnte, und rechtzeitig genug, um zu warnen. Eine verspätete Anzeige steht dem Unterlassen gleich. Deutlich und klar wahrnehmbar muss das Zeichen sein. Erst wenn das Ausscheren nach Erfüllung der Pflichten gemäß § 5 Abs. 4 S. 1 StVO möglich ist, darf es angezeigt werden; verfrühtes Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers irritiert den nachfolgenden Verkehr. Zeichengeben verschafft keinen Vorrang gegenüber aufgerückten Fahrzeugführern (Hentschel, StraßenverkehrsR, 43. Aufl., 2015, § 5 StVO Rdnr. 46, 47 m. w. F.). Ohne rechtzeitiges Zeichen darf niemand ausscheren.

Im Streitfall haben die Zeugen den klägerischen Vortrag bestätigt, wonach die Erstbeklagte, wenn überhaupt, den Fahrtrichtungsanzeiger praktisch gleichzeitig mit dem Ausscheren gesetzt hat. Dass sie damit nicht den vorgenannten Erfordernissen entsprochen hat, ist selbstredend.

II.

Ohne Erfolg machen die Beklagten geltend, zu dem Unfall sei es gekommen, weil der Kläger das Fahrzeug der Erstbeklagten „übersehen“ habe – was immer die Beklagten damit auch meinen.

1. Insbesondere ist ein unfallursächliches Mitverschulden des Klägers i. S. d. Überholens trotz unklarer Verkehrslage im Sinne von § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO weder substantiiert vorgetragen noch bewiesen. Eine unklare Verkehrslage liegt vor, wenn nach allen Umständen mit ungefährdendem Überholen nicht gerechnet werden darf (Hentschel, StraßenverkehrsR, 43. Aufl., 2015, § 5 StVO Rdnr. 34 m. w. N.).

Insoweit hat der Kläger zu Recht darauf hingewiesen, dass das Überholen mehrerer Fahrzeuge (Kolonne) nicht verboten ist (KG DAR 02, 557). Er muss lediglich nach der Örtlichkeit sicher sein, dass kein Vorausfahrender links abbiegen oder überholen will, braucht damit bei Fahrzeugen, deren Fahrtrichtungsanzeiger er sehen kann, mangels Anzeige nicht zu rechnen (Hentschel, StraßenverkehrsR, 43. Aufl., 2015, § 5 StVO Rdnr. 34, 35, 40 m. w. N.). Der Nachfolgende darf in der Regel darauf vertrauen, dass der Vorausfahrende vor dem Überholen rechtzeitig Zeichen gibt (BGH VRS 6 326).

Wollen mehrere hintereinanderfahrender Fahrzeuge überholen, so hat dasjenige Vorrang, dass zuerst korrekt dazu ansetzt. Dabei handelt es sich nicht in der Regel um das vorderste Fahrzeug. Denn wenn dessen Fahrer trotz Überholmöglichkeit zuwartet, entsteht hinter ihm Unklarheit und er hält den Verkehr auf. Aus einer Fahrzeugschlange heraus darf in der Regel zuerst derjenige überholen, der zuerst unter Anzeige ordnungsgemäß dazu angesetzt hat (BGH NJW 1987, 322), jedoch dann nicht, wenn Vorausfahrende ihre Überholabsicht ebenfalls bereits anzeigen. Einen Grundsatz, wonach bei drei oder mehr hintereinanderfahrenden Kraftfahrzeugen stets die vorderen Vorrang hätten, kann es nicht geben. Maßgebend sind vielmehr stets Verkehrslage und Überholweg (Hentschel, StraßenverkehrsR, 43. Aufl., 2015, § 5 StVO Rdnr. 40).

Im Streitfall ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bewiesen, dass der Kläger auf Grund eines am Beklagtenfahrzeug rechtzeitig betätigten Fahrtrichtungsanzeigers hätte gewarnt sein und sein Überholmanöver hätte abbrechen können und müssen. Dies folgt aus den oben dargestellten Angaben der Zeugen, wonach die Erstbeklagte ihre Überholabsicht nicht bzw. jedenfalls nicht rechtzeitig angezeigt, sondern zeitgleich nach links gezogen hat, als die Fahrzeuge beinahe gleichauf waren.

2. Vor diesem Hintergrund hat sich der Kläger auch keinen Reaktionsverzug vorwerfen zu lassen.

III.

Dem Kläger wäre daher allenfalls die vom Betrieb seines Fahrzeuges ausgehende Betriebsgefahr anzurechnen. Allerdings geht das erkennende Gericht davon aus, dass derjenige, der unter Verstoß gegen die Gebote der Rückschau und der rechtzeitigen Ankündigung – grob verkehrswidrig – zum Überholen ansetzt und dabei mit einem ihn ordnungsgemäß überholenden Kraftfahrzeug zusammenstößt, für den entstandenen Schaden grundsätzlich allein haftet, ohne dass dem Überholenden die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges anzurechnen ist (KG, Urt. v. 21. 11. 1985 – 12 U 3953/84 und KG Urt. v. 11. 5. 1987 – 12 U 5595/86; KG NJW-RR 87, 1251).

IV.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO.

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