Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Ein Unfall an der Bushaltestelle: Wer haftet, wenn die Geschichten kollidieren?
- Der strittige Moment: Zwei Versionen eines Unfalls
- Die Mission des Gerichts: Die Wahrheit zwischen den Zeugenaussagen finden
- Das Urteil der Zeugen: Warum manche Geschichten glaubwürdiger sind
- Das Gesetz des Wendens: Die hohe Verantwortung des Richtungswechslers
- Die Frage der Mitschuld: Warum eine Fahrerin die volle Haftung trägt
- Die Berechnung des Schadens: Mehr als nur die Reparaturrechnung
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was passiert, wenn sich die Unfallversionen der Beteiligten komplett widersprechen?
- Wie entscheidet ein Gericht, wessen Zeugenaussage bei einem Unfall glaubwürdiger ist?
- Welche besonderen Regeln gelten bei einem Unfall, der während eines Wende- oder Rückwärtsfahrmanövers passiert?
- Kann die Betriebsgefahr meines eigenen Fahrzeugs meine Haftung beeinflussen, auch wenn ich den Unfall nicht verursacht habe?
- Welche Kosten kann ich nach einem unverschuldeten Verkehrsunfall von der Gegenseite zurückverlangen?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Urteil Az.: 716a C 332/15 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Zum vorliegendenDas Wichtigste in Kürze
- Gericht: AG Hamburg-Wandsbek
- Datum: 04.03.2016
- Aktenzeichen: 716a C 332/15
- Rechtsbereiche: Verkehrsrecht, Schadensersatzrecht, Versicherungsrecht
Beteiligte Parteien:
- Kläger: Die Besitzerin eines VW, die Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend machte und angab, ihr stehendes Fahrzeug sei angefahren worden.
- Beklagte: Die Fahrerin eines B. und deren Haftpflichtversicherung. Sie beantragten die Klageabweisung und behaupteten, der Unfall sei durch das Rückwärtsfahren des Klägerfahrzeugs verursacht worden.
Worum ging es in dem Fall?
- Sachverhalt: Ein Verkehrsunfall ereignete sich in Hamburg zwischen dem VW der Klägerin und dem B. der Beklagtenfahrerin. Am Fahrzeug der Klägerin entstand ein Schaden hinten links, wofür die Klägerin Schadensersatz forderte.
- Kern des Rechtsstreits: Die zentrale Rechtsfrage betraf die vollständige Haftung und Schadensersatzpflicht aus einem Verkehrsunfall. Es ging um die Klärung, ob ein stehendes Fahrzeug von einem wendenden Fahrzeug erfasst wurde oder ob das klägerische Fahrzeug rückwärts fuhr, und die daraus resultierende Frage der Allein- oder Mithaftung.
Was wurde entschieden?
- Entscheidung: Die Beklagten wurden als Gesamtschuldner zur Zahlung von 2.280,46 € nebst Zinsen an die Klägerin verurteilt, zuzüglich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 293,30 € mit Zinsen. Die Beklagten haben zudem die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
- Begründung: Das Gericht stellte fest, dass die Beklagtenfahrerin den Unfall durch einen schuldhaften Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung verursachte, indem sie beim Wenden gegen die linke hintere Seite des stehenden Fahrzeugs der Klägerin fuhr. Es wurde festgestellt, dass das Fahrzeug der Klägerin nicht zurücksetzte und kein Mitverschulden der Klägerin vorlag. Die Klägerin kann den gesamten Schaden ersetzt verlangen.
- Folgen: Die Klägerin erhält vollen Ersatz für den ihr entstandenen Schaden sowie die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten, da das Gericht die alleinige Haftung der Beklagten für den Unfall feststellte.
Der Fall vor Gericht
Ein Unfall an der Bushaltestelle: Wer haftet, wenn die Geschichten kollidieren?
Ein alltäglicher Verkehrsunfall, zwei beteiligte Autos und zwei völlig gegensätzliche Schilderungen des Hergangs. Wer trägt die Schuld, wenn Aussage gegen Aussage steht? In einem solchen Fall musste das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek entscheiden, welche Version der Wahrheit entspricht und wer für den entstandenen Schaden aufkommen muss. Das Urteil zeigt detailliert, wie ein Gericht Beweise bewertet und zu einer klaren Entscheidung kommt, selbst wenn die Faktenlage auf den ersten Blick unklar erscheint.
Der strittige Moment: Zwei Versionen eines Unfalls

Die Ausgangslage schien simpel. In der Bucht einer Bushaltestelle in Hamburg kollidierten zwei Fahrzeuge: der VW der Klägerin und der BMW der Beklagten. Am VW entstand ein Schaden an der linken hinteren Seite. Doch wie genau kam es zu dieser Kollision? Hier gingen die Meinungen der Beteiligten weit auseinander.
Die Sicht der Klägerin: Stillstand und plötzlicher Aufprall
Die Klägerin (die Halterin des VW) schilderte den Vorfall so: Ihr Fahrzeug, ein Taxi, habe in der Bushaltestelle gestanden. Plötzlich sei die Beklagte zu 1) (die Fahrerin des BMW) beim Wenden in ihr stehendes Fahrzeug gefahren. Aus diesem Grund forderte sie den vollen Ersatz ihres Schadens. Dieser umfasste die Reparaturkosten in Höhe von 1.853,74 €, die Kosten für das Sachverständigengutachten von 406,72 €, eine allgemeine Unkostenpauschale von 20,- € und die vorgerichtlichen Anwaltskosten von 293,30 €.
Die Sicht der Beklagten: Ein unerwartetes Rückwärtsfahren
Die Beklagte zu 1) und ihre Versicherung, die Beklagte zu 2), stellten den Unfallhergang völlig anders dar. Ihrer Aussage nach habe die Fahrerin des BMW gerade ein Wendemanöver durchgeführt, als das Taxi der Klägerin plötzlich rückwärts gefahren sei. Die Fahrerin habe noch versucht, durch Hupen auf sich aufmerksam zu machen, konnte den Zusammenstoß aber nicht mehr verhindern. Die Beklagten beantragten daher, die Klage vollständig abzuweisen. Zusätzlich bestritten sie die Höhe des Schadens und die Erstattungsfähigkeit bestimmter Kostenpunkte.
Die Mission des Gerichts: Die Wahrheit zwischen den Zeugenaussagen finden
Wie kann ein Gericht in einer solchen Situation eine Entscheidung treffen? Wenn zwei Parteien so unterschiedliche Geschichten erzählen, kommt es auf die Beweise an. In diesem Fall waren das vor allem die Aussagen von Zeugen, die den Unfall beobachtet hatten. Das Gericht musste nun herausfinden, wessen Schilderung glaubwürdiger und überzeugender war. Dafür hörte es vier verschiedene Zeugen und die beklagte Fahrerin persönlich an.
Das Urteil der Zeugen: Warum manche Geschichten glaubwürdiger sind
Die Bewertung von Zeugenaussagen ist eine der zentralen Aufgaben eines Gerichts. Es geht nicht nur darum, was gesagt wird, sondern auch wie. Das Gericht kam nach der Anhörung zu einer klaren Überzeugung.
Es glaubte den beiden Zeugen der Klägerin. Dabei handelte es sich um zwei Taxifahrer, die an der Haltestelle gerade einen Schichtwechsel durchführen wollten. Beide sagten übereinstimmend aus, dass ihr Taxi zu keinem Zeitpunkt rückwärts gefahren sei. Das Gericht bewertete ihre Aussagen als besonders glaubhaft. Warum? Weil sie ruhig und ohne erkennbare Absicht, eine bestimmte Version durchzusetzen, aussagten. Sie gaben sogar freimütig zu, wenn sie sich an Details nicht mehr genau erinnern konnten, was ihre Glaubwürdigkeit paradoxerweise stärkte. Zudem erschien ihre Geschichte logisch: Es gab für sie keinen Grund, das Fahrzeug zurückzusetzen.
Im Gegensatz dazu hatte das Gericht erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin der Beklagten. Sie machte einen fahrigen und nervösen Eindruck, wollte sich bei vielen Punkten nicht festlegen und widersprach sich teilweise. Ihre Aussage, sie habe genau die Brems- und Rückleuchten des Taxis gesehen, erschien dem Gericht angesichts ihrer sonstigen Unsicherheit unglaubwürdig. Als besonders lebensfremd wertete das Gericht ihre Behauptung, sie sei nach dem Unfall einfach weitergefahren, obwohl sie bemerkt haben wollte, dass ihre Freundin – die Beklagte zu 1) – in einen Unfall verwickelt war. Ein vierter Zeuge konnte zur eigentlichen Kollision nichts sagen, da er erst danach auf die Szene aufmerksam wurde.
Das Gesetz des Wendens: Die hohe Verantwortung des Richtungswechslers
Nachdem das Gericht davon überzeugt war, dass das Taxi der Klägerin stand, war die rechtliche Bewertung eindeutig. Die Kollision ereignete sich, weil die Beklagte zu 1) ein Wendemanöver durchführte. Ein solches Manöver gilt im Straßenverkehr als besonders gefährlich.
Deshalb legt die Straßenverkehrsordnung (§ 9 Abs. 5 StVO) demjenigen, der wendet, eine extrem hohe Sorgfaltspflicht auf. Man kann sich das so vorstellen: Wer ein so riskantes Manöver startet, muss quasi garantieren, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer auch nur im Geringsten gefährdet wird. Er muss die Situation vollständig überblicken und im Zweifel lieber warten.
Kommt es während eines solchen Wendemanövers dennoch zu einem Unfall, geht das Gesetz erst einmal davon aus, dass der Wendende diesen verschuldet hat. Juristen nennen dies den Beweis des ersten Anscheins. Das ist eine Art juristische Vermutung, die auf allgemeiner Lebenserfahrung beruht: Normalerweise kracht es beim Wenden nur, wenn der Wendende nicht ausreichend aufgepasst hat. Diesen Anscheinsbeweis konnte die Fahrerin des BMW nicht widerlegen.
Die Frage der Mitschuld: Warum eine Fahrerin die volle Haftung trägt
Aber trägt nicht jeder Autofahrer eine gewisse Grundverantwortung? Grundsätzlich trägt jedes Auto, das am Verkehr teilnimmt, eine gewisse Gefahr in sich. Selbst ein parkendes Auto stellt ein Hindernis dar. Diese grundsätzliche Gefahr nennt man Betriebsgefahr. Bei einem Unfall wird normalerweise abgewogen, wie hoch der jeweilige Verursachungsbeitrag und die Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge waren (§ 17 StVG).
In diesem Fall kam das Gericht jedoch zu dem Schluss, dass die Klägerin überhaupt keine Mitschuld trifft. Der Verstoß der Beklagten gegen die höchste Sorgfaltspflicht beim Wenden wog so schwer, dass die einfache Betriebsgefahr des stehenden Taxis daneben vollkommen zurücktrat. Anders ausgedrückt: Der Fehler der Fahrerin des BMW war so gravierend, dass er die alleinige Ursache für den Unfall war. Daher müssen sie und ihre Versicherung den Schaden zu 100 % ersetzen.
Die Berechnung des Schadens: Mehr als nur die Reparaturrechnung
Das Gericht sprach der Klägerin den vollen geforderten Schadensersatz zu. Die Beklagten wurden als Gesamtschuldner verurteilt. Das bedeutet, die Klägerin kann sich aussuchen, von wem sie das Geld fordert – von der Fahrerin, der Versicherung oder von beiden gemeinsam. Sobald einer vollständig gezahlt hat, ist die Schuld für alle beglichen.
Das Gericht bestätigte auch die einzelnen Schadensposten:
- Reparaturkosten: Die Klägerin kann die Kosten auf Basis des Gutachtens verlangen, selbst wenn sie das Auto nicht reparieren lässt. Auch die im Gutachten enthaltenen Aufschläge für Ersatzteile und die Kosten für den Transport zur Werkstatt sind erstattungsfähig, da sie in einer Fachwerkstatt regelmäßig anfallen.
- Sachverständigenkosten: Die Klägerin durfte diese Kosten einklagen, da der Anspruch, der kurzzeitig an den Gutachter abgetreten war, vor dem Prozess wieder an sie zurückübertragen wurde.
- Anwaltskosten: Der Anspruch auf Erstattung der Anwaltskosten entstand, weil die Versicherung die Zahlung verweigerte und die Klägerin sich gezwungen sah, einen Anwalt einzuschalten. Ob sie die Rechnung ihres Anwalts bereits bezahlt hatte, spielte für den Anspruch gegen die Gegenseite keine Rolle.
Das Urteil macht deutlich, dass ein Gericht durch eine sorgfältige Bewertung von Zeugenaussagen und die konsequente Anwendung klarer Verkehrsregeln auch in einem auf den ersten Blick unklaren Fall zu einem eindeutigen Ergebnis kommen kann.
Die Schlüsselerkenntnisse
Das Gericht entschied klar: Wer ein Wendemanöver durchführt, trägt die volle Verantwortung für entstehende Unfälle, da die Straßenverkehrsordnung eine extrem hohe Sorgfaltspflicht beim Wenden vorschreibt. Entscheidend war, dass das Gericht den Zeugen der geschädigten Taxifahrerin mehr Glaubwürdigkeit zusprach als der Gegenseite – deren Zeugin wirkte nervös und widersprüchlich, während die Taxifahrer ruhig und ehrlich aussagten. Die wichtigste Erkenntnis: Bei widersprüchlichen Unfallschilderungen kommt es darauf an, wer glaubwürdiger aussagt und welche Version logischer erscheint. Für Autofahrer bedeutet das Urteil, dass Wendemanöver besonders gefährlich sind und man dabei praktisch eine Garantie übernimmt, niemanden zu gefährden – sonst haftet man vollständig für alle Schäden.
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Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was passiert, wenn sich die Unfallversionen der Beteiligten komplett widersprechen?
Wenn nach einem Verkehrsunfall die Schilderungen der beteiligten Personen stark voneinander abweichen und es quasi „Aussage gegen Aussage“ steht, bedeutet das zunächst, dass der Unfallhergang nicht eindeutig feststeht. Eine sofortige Klärung der Schuldfrage ist in dieser Situation nicht möglich.
Die Rolle der Beweise
In einem solchen Szenario kommt es entscheidend auf die verfügbaren Beweismittel an, die über die reinen Behauptungen der Beteiligten hinausgehen. Gerichte sind darauf angewiesen, sich ein objektives Bild des Geschehens zu machen. Hierbei spielen verschiedene Arten von Beweisen eine wichtige Rolle:
- Zeugenaussagen: Berichte von unabhängigen Personen, die den Unfall beobachtet haben, können von großer Bedeutung sein. Ihre Glaubwürdigkeit und die Plausibilität ihrer Schilderungen werden vom Gericht genau geprüft.
- Objektive Spuren am Unfallort: Dazu gehören beispielsweise Bremsspuren, die genaue Endposition der Fahrzeuge nach dem Zusammenstoß, Trümmerteile oder Schäden an der Infrastruktur (z.B. Leitplanken, Ampeln).
- Fotos und Videos: Visuelle Aufnahmen, sei es von Mobiltelefonen, Dashcams oder Überwachungskameras, können oft den Unfallhergang detailliert belegen und haben eine hohe Beweiskraft.
- Sachverständigengutachten: Ein unabhängiger Gutachter kann auf Basis der vorhandenen Spuren, Schäden an den Fahrzeugen und weiteren Informationen den Unfallhergang wissenschaftlich rekonstruieren und so zur Klärung beitragen.
Die Bedeutung der Beweislast
Wenn eine gerichtliche Klärung erforderlich wird, ist die Beweislast ein entscheidender Faktor. Das bedeutet: Wer Ansprüche geltend macht, beispielsweise auf Schadenersatz nach einem Unfall, muss grundsätzlich beweisen, dass die andere Partei den Unfall verursacht hat oder dafür verantwortlich ist. Stellen Sie sich vor, eine Partei behauptet, die andere sei bei Rot über die Ampel gefahren. Dann obliegt es der behauptenden Partei, diesen Umstand auch zu beweisen. Kann dieser Beweis nicht erbracht werden, erschwert das die Durchsetzung des Anspruches erheblich.
Die gerichtliche Entscheidung
Das Gericht wird alle gesammelten Beweismittel sorgfältig prüfen und bewerten. Dies nennt man Freie Beweiswürdigung. Dabei wird die Glaubwürdigkeit von Zeugen, die Plausibilität der einzelnen Aussagen und deren Übereinstimmung mit den objektiven Spuren und Gutachten genau abgewogen. Der Richter oder die Richterin bildet sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen. Es geht also nicht darum, welche Partei die „bessere“ Geschichte erzählt, sondern welche Fakten und Beweise die Darstellung stützen.
Kann auch nach umfassender Beweisaufnahme kein eindeutiger Unfallverursacher festgestellt werden, weil die Beweislage unklar bleibt oder widersprüchlich ist, kann dies unterschiedliche Konsequenzen haben:
- Oft führt dies zu einer Haftungsteilung, bei der beiden Parteien eine gewisse Mitverantwortung zugesprochen wird, beispielsweise im Verhältnis 50 zu 50, weil keine Seite ihren vollständigen Beweis erbringen konnte.
- In manchen Fällen, wenn eine Partei ihre Behauptungen überhaupt nicht beweisen kann und keine Mitschuld der anderen Partei feststellbar ist, könnte der geltend gemachte Anspruch auch abgewiesen werden.
Das bedeutet für die Beteiligten, dass in einer „Aussage gegen Aussage“-Situation die Sammlung und Sicherung aller denkbaren Beweismittel von größter Bedeutung ist, da letztlich nur das, was tatsächlich bewiesen werden kann, vor Gericht Bestand haben wird.
Wie entscheidet ein Gericht, wessen Zeugenaussage bei einem Unfall glaubwürdiger ist?
Wenn ein Gericht bei einem Unfall entscheiden muss, welche Zeugenaussage glaubwürdiger ist, geht es darum, sich ein umfassendes Bild von den tatsächlichen Geschehnissen zu machen. Das Gericht prüft dabei nicht nur, was die Zeugen sagen, sondern auch wie sie es sagen. Man spricht hier von der freien Beweiswürdigung des Gerichts, geregelt in Paragraf 286 der Zivilprozessordnung. Das bedeutet, der Richter entscheidet nach seiner eigenen Überzeugung und Lebenserfahrung, nachdem er alle Beweise sorgfältig geprüft hat.
Kriterien der Glaubwürdigkeit einer Aussage
Für die Bewertung einer Zeugenaussage zieht das Gericht verschiedene Kriterien heran, um die Glaubwürdigkeit der Person und die Glaubhaftigkeit der Aussage zu beurteilen:
- Konsistenz und Widerspruchsfreiheit: Eine wichtige Rolle spielt, ob die Aussage des Zeugen in sich logisch und widerspruchsfrei ist. Bleibt der Zeuge bei seinen Angaben, auch wenn er Details wiederholt berichten oder Fragen dazu beantworten muss? Gibt es Abweichungen zu früheren Aussagen (z.B. bei der Polizei oder gegenüber Versicherungen)? Kleine, natürliche Ungenauigkeiten sind dabei menschlich, aber grundlegende Widersprüche können die Glaubwürdigkeit mindern.
- Detailreichtum und Plausibilität: Das Gericht prüft, ob die geschilderten Details nachvollziehbar und realistisch sind. Kann der Zeuge konkrete Einzelheiten zum Unfallhergang, zu Zeiten, Orten oder beteiligten Personen nennen? Sind die geschilderten Abläufe lebensnah und plausibel oder wirken sie konstruiert? Zu viele perfekte Details können ebenso misstrauisch machen wie zu wenige. Es geht um eine natürliche, authentische Darstellung.
- Übereinstimmung mit anderen Beweismitteln: Eine Zeugenaussage wird selten isoliert betrachtet. Das Gericht vergleicht sie mit anderen verfügbaren Beweismitteln. Passt die Aussage zu Fotos vom Unfallort, Unfallskizzen, schriftlichen Unterlagen, Gutachten von Sachverständigen oder den Aussagen anderer Zeugen? Je besser eine Aussage mit objektiven oder anderen glaubwürdigen Beweismitteln übereinstimmt, desto glaubwürdiger erscheint sie.
- Art und Weise des Vortrags: Der Richter beobachtet sehr genau, wie der Zeuge seine Aussage präsentiert. Wirkt der Zeuge sicher, zögerlich, nervös, emotionslos oder sehr emotional? Sprechen Mimik, Gestik und die Art der Formulierung dafür, dass der Zeuge ehrlich ist oder eher, dass er sich etwas ausdenkt? Auch wenn dies subjektive Eindrücke sind, fließen sie in die Gesamtbeurteilung mit ein. Ein Zeuge, der offen auch eigene Unsicherheiten oder Lücken im Gedächtnis einräumt, kann glaubwürdiger wirken als jemand, der versucht, alles perfekt darzustellen.
Die Rolle des Richters
Der Richter hat die Aufgabe, sich aus all diesen Eindrücken und Informationen eine persönliche Überzeugung zu bilden. Es gibt keine Formel oder feste Checkliste, die automatisch entscheidet, welche Aussage glaubwürdiger ist. Vielmehr ist es eine Gesamtwürdigung, bei der alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, um dem tatsächlichen Geschehen möglichst nahe zu kommen. Das Gericht bewertet auch, ob der Zeuge ein eigenes Interesse am Ausgang des Verfahrens haben könnte, zum Beispiel weil er mit einer Partei verwandt ist oder selbst an dem Unfall beteiligt war. Dies wird berücksichtigt, mindert aber nicht automatisch die Glaubwürdigkeit, wenn die Aussage ansonsten überzeugend ist.
Welche besonderen Regeln gelten bei einem Unfall, der während eines Wende- oder Rückwärtsfahrmanövers passiert?
Wenn Sie mit Ihrem Fahrzeug wenden oder rückwärtsfahren, gelten im Straßenverkehr besonders strenge Regeln und eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Das liegt daran, dass solche Manöver grundsätzlich als risikoreich angesehen werden, da die Sicht oft eingeschränkt ist und andere Verkehrsteilnehmer das Vorhaben möglicherweise nicht sofort erkennen.
Besondere Vorsicht bei Wende- und Rückwärtsfahrmanövern
Für Personen, die ein Wende- oder Rückwärtsfahrmanöver durchführen, schreibt der Gesetzgeber vor, dass sie größtmögliche Vorsicht walten lassen müssen. Das bedeutet, Sie dürfen andere Verkehrsteilnehmer, also Fußgänger, Radfahrer oder andere Fahrzeuge, nicht gefährden. Wenn Sie beispielsweise rückwärts aus einer Parklücke fahren, müssen Sie sich nicht nur nach hinten orientieren, sondern auch auf den fließenden Verkehr und eventuelle Fußgänger achten, die hinter Ihrem Fahrzeug vorbeigehen könnten.
Diese Pflicht zur besonderen Vorsicht umfasst:
- Umfassende Beobachtung: Sie müssen sich vergewissern, dass die Fahrbahn in alle Richtungen frei ist. Dazu gehört auch der Blick über die Schulter, in alle Spiegel und gegebenenfalls das Einholen von Hilfe durch eine einweisende Person.
- Vermeidung jeder Gefährdung: Erst wenn Sie sichergestellt haben, dass niemand gefährdet oder behindert wird, dürfen Sie das Manöver fortsetzen.
- Angepasste Geschwindigkeit: Das Manöver muss langsam und mit äußerster Vorsicht ausgeführt werden, sodass Sie jederzeit anhalten können.
Die Bedeutung des Anscheinsbeweises
Kommt es während eines solchen Wende- oder Rückwärtsfahrmanövers zu einem Unfall, spricht rechtlich der sogenannte „Anscheinsbeweis“ eine wichtige Rolle. Dies ist eine Art rechtliche Vermutung: Wenn ein Unfall beim Wenden oder Rückwärtsfahren passiert, geht man in der Regel zunächst davon aus, dass die Person, die dieses Manöver durchgeführt hat, den Unfall auch verschuldet hat.
Für Sie bedeutet das: Wenn Sie einen Unfall beim Rückwärtsfahren oder Wenden verursachen, liegt die Beweislast in vielen Fällen bei Ihnen. Sie müssten dann im Streitfall nachweisen, dass der Unfall trotz Ihrer äußersten Sorgfalt und Einhaltung aller Regeln geschehen ist – oder dass der andere Unfallbeteiligte eine Mitschuld trägt. Dies ist oft schwierig, da die erhöhte Sorgfaltspflicht sehr weitreichend ist und Sie jede Gefährdung vermeiden müssen. Der Anscheinsbeweis kann nur erschüttert werden, wenn Sie konkrete Tatsachen vorbringen können, die gegen die übliche Annahme sprechen.
Kurz gesagt: Wer wendet oder rückwärtsfährt, trägt ein erhöhtes Unfallrisiko und hat eine besondere Verantwortung, um Kollisionen zu vermeiden.
Kann die Betriebsgefahr meines eigenen Fahrzeugs meine Haftung beeinflussen, auch wenn ich den Unfall nicht verursacht habe?
Ja, die Betriebsgefahr Ihres eigenen Fahrzeugs kann Ihre Haftung bei einem Verkehrsunfall beeinflussen, selbst wenn Sie den Unfall nicht selbst verschuldet haben. Dieser Grundsatz ist für viele juristische Laien schwer nachvollziehbar, da er nicht direkt mit einem Fehlverhalten Ihrerseits zusammenhängt.
Was ist die Betriebsgefahr?
Die Betriebsgefahr beschreibt die abstrakte, also allgemeine Gefahr, die von jedem fahrenden Kraftfahrzeug ausgeht. Es ist die Gefahr, die sich aus dem Betrieb eines Fahrzeugs als solchem ergibt, unabhängig davon, ob der Fahrer vorsichtig oder rücksichtslos fährt. Stellen Sie sich vor: Ein tonnenschweres, sich bewegendes Fahrzeug birgt allein durch seine Masse und Geschwindigkeit ein potenzielles Risiko für andere Verkehrsteilnehmer, selbst wenn es ordnungsgemäß geführt wird. Dieses Risiko ist die Betriebsgefahr. Sie ist ein fester Bestandteil der sogenannten Gefährdungshaftung im Straßenverkehrsrecht, geregelt unter anderem im Straßenverkehrsgesetz (StVG).
Wie beeinflusst die Betriebsgefahr die Haftung?
Auch wenn Sie einen Unfall nicht durch ein eigenes Fehlverhalten (wie das Missachten einer Vorfahrt oder zu schnelles Fahren) verursacht haben, kann Ihnen ein Anteil an der Haftung zugerechnet werden, eben aufgrund der Betriebsgefahr Ihres Fahrzeugs. Das bedeutet: Wenn beispielsweise der Unfallgegner einen Fehler gemacht hat, der den Unfall primär verursacht hat, können Gerichte trotzdem einen geringen Teil der Haftung, oft 20 bis 30 Prozent, der Betriebsgefahr Ihres Fahrzeugs zurechnen. Dies geschieht auf Basis einer Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge und der Betriebsgefahren beider Fahrzeuge.
Wann tritt die Betriebsgefahr zurück?
Es gibt jedoch eine wichtige Ausnahme, die für Sie als Fahrzeughalter eine Entwarnung sein kann: Die Betriebsgefahr Ihres Fahrzeugs kann vollständig zurücktreten, wenn der Fehler des Unfallgegners so schwerwiegend war, dass Ihr Fahrzeug in den Hintergrund tritt. Dies ist der Fall, wenn der Unfallgegner beispielsweise:
- Unter starkem Alkoholeinfluss stand.
- Ein rotes Licht grob missachtet hat.
- Ein riskantes Überholmanöver durchgeführt hat, das den Unfall zwingend herbeiführte.
- Oder eine andere besonders schwerwiegende Pflichtverletzung begangen hat.
In solchen Fällen eines groben oder alleinigen Verschuldens des Unfallgegners entfällt die Haftung aufgrund der Betriebsgefahr Ihres Fahrzeugs komplett. Das bedeutet, dass Ihnen in diesem spezifischen Szenario kein Mitverschulden angelastet wird und der Unfallgegner die alleinige Haftung trägt.
Welche Kosten kann ich nach einem unverschuldeten Verkehrsunfall von der Gegenseite zurückverlangen?
Nach einem unverschuldeten Verkehrsunfall können Sie grundsätzlich eine Vielzahl von Kostenpositionen von der gegnerischen Versicherung zurückverlangen, um den entstandenen Schaden vollständig auszugleichen. Das Ziel ist es, Sie finanziell so zu stellen, als hätte der Unfall nicht stattgefunden.
Direkte Fahrzeugschäden und damit verbundene Kosten
Ein zentraler Punkt sind die Reparaturkosten Ihres Fahrzeugs. Hierbei haben Sie in der Regel zwei Möglichkeiten:
- Konkrete Reparatur: Die Kosten für die tatsächliche Reparatur in einer Werkstatt werden anhand der Reparaturrechnung erstattet. Dies umfasst sowohl die Arbeitskosten als auch die Materialkosten. Die Mehrwertsteuer wird hierbei vollständig erstattet.
- Fiktive Abrechnung: Sie können den Schaden auch ohne tatsächliche Reparatur auf Basis eines Gutachtens oder Kostenvoranschlags abrechnen. In diesem Fall wird oft nur der Netto-Betrag (ohne Mehrwertsteuer) erstattet, es sei denn, Sie weisen die tatsächliche Bezahlung der Mehrwertsteuer nach.
Um die Höhe des Schadens zu beziffern, sind in den meisten Fällen Sachverständigenkosten erstattungsfähig. Wenn der Schaden an Ihrem Fahrzeug erheblich ist – also in der Regel über einem Bagatellschaden (geringe Schadenshöhe) liegt – haben Sie das Recht, einen unabhängigen Sachverständigen Ihrer Wahl zu beauftragen. Die Kosten für dieses Gutachten muss die gegnerische Versicherung übernehmen.
Weitere wichtige Schadenspositionen
Während der Reparaturzeit oder wenn Ihr Fahrzeug einen Totalschaden erleidet, können Ihnen weitere Kosten entstehen:
- Mietwagenkosten oder Nutzungsausfallentschädigung: Wenn Sie Ihr Fahrzeug nach dem Unfall nicht nutzen können und auf ein Ersatzfahrzeug angewiesen sind, können Sie entweder die Kosten für einen Mietwagen in angemessener Höhe verlangen oder eine Nutzungsausfallentschädigung erhalten. Diese Entschädigung ist ein fester Betrag pro Tag, der den Wert der entgangenen Nutzung Ihres eigenen Fahrzeugs ausgleicht, falls Sie keinen Mietwagen nehmen.
- Wertminderung (Merkantiler Minderwert): Selbst nach einer fachgerechten Reparatur kann ein Unfallfahrzeug auf dem Gebrauchtwagenmarkt einen geringeren Wert haben als ein unfallfreies Fahrzeug. Dieser Wertverlust wird als merkantiler Minderwert bezeichnet und ist ebenfalls erstattungsfähig. Ein Sachverständiger stellt diesen in der Regel fest.
- Abschleppkosten und Standkosten: Wenn Ihr Fahrzeug nach dem Unfall nicht mehr fahrbereit war und abgeschleppt werden musste, sind die hierfür entstandenen Kosten sowie eventuelle Standkosten bis zur Reparatur oder Verwertung erstattungsfähig.
Für allgemeine Unannehmlichkeiten und kleinere Auslagen wie Telefonate, Porto oder Fahrten können Sie zudem eine Kostenpauschale geltend machen. Dies ist ein kleiner, pauschaler Betrag, der diese Aufwendungen abdeckt, ohne dass Sie jeden Beleg einzeln nachweisen müssen.
Kosten der Rechtsverfolgung
Auch die Kosten, die Ihnen für die Durchsetzung Ihrer Ansprüche entstehen, sind in der Regel von der Gegenseite zu tragen. Dazu gehören auch die Anwaltskosten, wenn der Unfall nachweislich unverschuldet war und die Haftung der Gegenseite vollumfänglich feststeht. Die gegnerische Versicherung muss in solchen Fällen die Gebühren für Ihre rechtliche Vertretung übernehmen.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Beweis des ersten Anscheins
Der Beweis des ersten Anscheins ist eine juristische Vermutung, die besagt, dass in bestimmten typischen Situationen zunächst davon ausgegangen wird, dass eine bestimmte Partei haftet. Im Verkehrsunfallrecht gilt dies insbesondere bei gefährlichen Manövern wie dem Wenden: Kommt es beim Wenden zu einem Unfall, wird vermutet, dass der Wendende die Schuld trägt, weil er eine besondere Sorgfaltspflicht verletzt hat (§ 9 Abs. 5 StVO). Diese Vermutung kann die Partei, gegen die sie spricht, nur widerlegen, wenn sie konkrete Gegenbeweise vorbringt, die nahelegen, dass der Unfall trotz pflichtgemäßen Verhaltens entstanden ist.
Beispiel: Wenn jemand beim Wenden mit einem anderen Auto zusammenstößt, wird grundsätzlich vermutet, dass der Wendende nicht aufgepasst hat und die Schuld trägt, es sei denn, er kann nachweisen, dass der andere Verkehrsteilnehmer z. B. plötzlich und unerwartet reagierte.
Betriebsgefahr
Die Betriebsgefahr bezeichnet das allgemeine Risiko, das vom Betrieb eines Fahrzeugs ausgeht, unabhängig vom konkreten Verschulden des Fahrers. Das heißt, selbst wenn ein Fahrzeug ordnungsgemäß geführt wird, birgt es durch seine Masse und Bewegung eine gewisse Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer (§ 17 StVG). Bei einem Unfall fließt die Betriebsgefahr in die Haftungsabwägung ein und kann dazu führen, dass auch der unverschuldete Fahrer einen Teil der Haftung trägt, weil sein Fahrzeug prinzipiell eine Gefahrenquelle darstellt.
Beispiel: Auch wenn ein Autofahrer keinen Fehler gemacht hat, kann bei einer Kollision eine Haftung teilweise zugunsten des anderen Beteiligten aus der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs resultieren, weil dies ein Grundrisiko des Straßenverkehrs ist.
Gesamtschuldner
Gesamtschuldner sind mehrere Personen, die gegenüber einem Gläubiger gemeinsam für eine Forderung haften. Das bedeutet, die geschädigte Partei kann die gesamte Schadenssumme von jedem der Gesamtschuldner verlangen, ohne auf eine anteilige Zahlung beschränkt zu sein. Sobald einer der Gesamtschuldner den vollen Betrag gezahlt hat, sind die Schuldner untereinander zur Ausgleichung verpflichtet (§ 421 BGB). Im Unfallfall sind häufig die Fahrer und deren Versicherungen Gesamtschuldner, um dem Geschädigten einen vollständigen Schadensersatz zu sichern.
Beispiel: Wenn ein Fahrer und seine Versicherung Gesamtschuldner sind, kann der Geschädigte die komplette Summe entweder direkt von der Versicherung oder vom Fahrer oder von beiden zusammen einfordern.
Freie Beweiswürdigung
Die freie Beweiswürdigung bezeichnet die Aufgabe des Gerichts, alle vorgelegten Beweise selbstständig und ohne vorgegebene Formeln zu bewerten. Das Gericht entscheidet nach eigener Überzeugung und Lebenserfahrung, welche Beweise glaubwürdig sind und wie der Sachverhalt juristisch einzuordnen ist (vgl. § 286 ZPO). Dabei müssen keine formellen Beweismittel eingehalten werden, sondern auch Indizien, Zeugenaussagen und Umstände werden in ihrer Gesamtheit bewertet.
Beispiel: Wenn zwei Zeugen unterschiedliche Unfallversionen schildern, prüft das Gericht, welche Aussage schlüssiger, widerspruchsfreier und glaubwürdiger wirkt, um die Wahrheit zu ermitteln.
Sorgfaltspflicht beim Wenden (nach § 9 Abs. 5 StVO)
Die Sorgfaltspflicht beim Wenden ist eine besonders hohe Pflicht im Straßenverkehr, wobei der Wendende sämtliche erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen treffen muss, um andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden oder zu behindern. Das Wenden wird deshalb als besonders gefährliches Manöver eingestuft, da es meist unvermittelt erfolgt und die Sicht eingeschränkt sein kann. Wer wendet, muss sich vergewissern, dass die Fahrbahn komplett frei ist und im Zweifelsfall lieber warten, bis eine Gefährdung ausgeschlossen werden kann.
Beispiel: Ein Autofahrer möchte auf der Straße wenden und muss daher langsam fahren, gut beobachten, ob andere Fahrzeuge oder Fußgänger kommen, und notfalls anhalten, bevor er das Wendemanöver durchführt. Wenn er dies nicht tut und es zum Unfall kommt, haftet er regelmäßig für den Schaden.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- § 9 Abs. 5 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO): Diese Regelung verpflichtet Verkehrsteilnehmer, die besondere Fahrmanöver wie Wenden, Rückwärtsfahren oder das Fahrstreifenwechseln durchführen, zu extrem hoher Sorgfalt. Sie müssen sicherstellen, dass andere Verkehrsteilnehmer dadurch nicht gefährdet oder behindert werden. Im Kern bedeutet dies, dass derjenige, der ein solches Manöver ausführt, nahezu eine Garantie für dessen gefahrloses Gelingen übernehmen muss und im Zweifel warten muss. Diese Vorschrift soll die besonderen Risiken solcher Manöver minimieren. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Da die Beklagte zu 1) beim Wenden mit dem stehenden Fahrzeug der Klägerin kollidierte, wurde ihr aufgrund Verletzung dieser höchsten Sorgfaltspflicht die alleinige Schuld am Unfall zugesprochen.
- § 7 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG): Dieser Paragraph regelt die sogenannte Gefährdungshaftung des Fahrzeughalters. Das bedeutet, dass der Halter eines Kraftfahrzeugs grundsätzlich für Schäden haftet, die beim Betrieb des Fahrzeugs entstehen – und zwar unabhängig davon, ob ihn ein Verschulden trifft. Es reicht die bloße „Betriebsgefahr“ des Fahrzeugs aus, also die Tatsache, dass von einem sich bewegenden oder betriebsbereiten Fahrzeug eine allgemeine Gefahr ausgeht. Diese Regelung dient dem Schutz potenzieller Unfallopfer. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Dieser Paragraph bildet die primäre rechtliche Grundlage für den Schadensersatzanspruch der Klägerin, da der Unfall durch den Betrieb des Fahrzeugs der Beklagten zu 1) verursacht wurde.
- § 17 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG): Dieser Paragraph ist relevant, wenn mehrere Fahrzeuge an einem Unfall beteiligt sind und zu prüfen ist, wer welchen Anteil am Schaden trägt. Er schreibt vor, dass die Verursachungsbeiträge und die Betriebsgefahren aller beteiligten Fahrzeuge gegeneinander abgewogen werden müssen. Ziel ist es, eine gerechte Aufteilung des Schadens entsprechend der individuellen Verantwortlichkeiten und der von den Fahrzeugen ausgehenden Gefahren zu finden. Dies ermöglicht es dem Gericht, die jeweiligen Anteile am Unfall zu bewerten. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Obwohl von jedem beteiligten Fahrzeug eine Betriebsgefahr ausgeht, wurde in diesem Fall die Betriebsgefahr des stehenden Taxis der Klägerin vollständig von dem schweren Verschulden der Beklagten zu 1) beim Wendemanöver verdrängt, sodass diese allein haftet.
- § 249 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB): Diese grundlegende Vorschrift im deutschen Schadensrecht legt den Umfang des Schadensersatzes fest. Sie besagt, dass der Schädiger den Geschädigten so stellen muss, als wäre das schädigende Ereignis nie eingetreten. Dies bedeutet die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands, sei es durch Reparatur, Ersatzbeschaffung oder Zahlung eines Geldbetrags. Ziel ist die volle Kompensation des tatsächlich erlittenen Nachteils, um den Geschädigten nicht schlechter zu stellen. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Dieser Paragraph ist die rechtliche Basis dafür, dass die Klägerin die vollen Kosten für Reparatur, Sachverständigengutachten, Unkostenpauschale und ihre vorgerichtlichen Anwaltskosten von den Beklagten ersetzt bekommt.
- Beweis des ersten Anscheins (im Zivilprozessrecht): Der Beweis des ersten Anscheins ist eine juristische Hilfskonstruktion, die die Beweisführung in typischen Unfallkonstellationen erleichtert. Wenn ein Unfallhergang nach allgemeiner Lebenserfahrung auf einen bestimmten Verursacher oder eine bestimmte Ursache hindeutet (z.B. ein Auffahrunfall auf den Auffahrenden), wird dessen Verschulden zunächst vermutet. Diese Vermutung kann der Betroffene nur durch konkrete Gegenbeweise entkräften, was die Beweislast für den Geschädigten mindert. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht konnte die Schuld der Wendenden durch den Beweis des ersten Anscheins feststellen, da ein Unfall während eines Wendemanövers typischerweise auf eine Verletzung der Sorgfaltspflicht des Wendenden hindeutet und diese Vermutung hier nicht widerlegt wurde.
Das vorliegende Urteil
AG Hamburg-Wandsbek – Az.: 716a C 332/15 – Urteil vom 04.03.2016
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