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Verkehrsunfall – Anscheinsbeweis bei Missachtung der Wartepflicht

LG Osnabrück, Az.: 3 S 347/18, Urteil vom 05.02.2019

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Papenburg vom 19.9.2018 – 3 C 598/16 – teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin EUR 4.044,99 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus EUR 4.032,99 seit dem 6.7.2016 sowie aus weiteren EUR 12,00 seit dem 7.9.2016 zu zahlen.

Die Beklagten werden weiter verurteilt, als Gesamtschuldner außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 413,90 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6.7.2017 an den Kläger zu zahlen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits der ersten und zweiten Instanz tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall.

Verkehrsunfall - Anscheinsbeweis bei Missachtung der Wartepflicht
Symbolfoto: Von Marsan /Shutterstock.com

Am 14.6.2016 gegen 10:40 Uhr fuhr der Kläger mit seinem Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen E. in P. auf der R.-Straße in Richtung B 70 (M. Straße). Die R.-Straße und die B 70 kreuzen sich im Unfallbereich in einem Winkel von etwa 90 Grad berührungsfrei. Dabei wird die B 70 in einer Brücke über die R.-Straße geführt, beide Straßen sind durch eine geschwungene Auffahrt verbunden. Wegen der weiteren Einzelheiten der Unfallörtlichkeit wird insoweit auf das Luftbild Blatt 72 Band I der Akten Bezug genommen. Der Kläger setzte bei Erreichen der Auffahrt den Blinker nach links, um auf die Auffahrt zur B 70 einzubiegen, wobei Einzelheiten zwischen den Parteien streitig sind. Der Beklagte zu 2. näherte sich zur gleichen Zeit aus der Gegenrichtung mit dem Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen E., dessen Halter die Beklagte zu 1. ist und das im Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 3. haftpflichtversichert war. Er wollte nach rechts auf die Auffahrt zur B 70 abbiegen. Durch entsprechende Beschilderung (Verkehrszeichen 205) sowie eine gestrichelte Linie ist in diesem Bereich die Vorfahrt so geregelt, dass der nach links abbiegende Kläger Vorrang vor dem nach rechts abbiegenden Beklagten zu 2. hatte. Im Bereich der Auffahrt kam es zu einem Zusammenprall zwischen den Parteien, wobei auch hier die Einzelheiten streitig sind. Die Fahrzeuge kamen einige Meter hinter dem Bereich der Einmündung, aus der der Kläger auf die Auffahrt fuhr, zum Stehen.

Der Kläger hat behauptet, er sei ordnungsgemäß über die dafür vorgesehene rechte Spur abgebogen. Der Beklagte zu 2 habe jedoch seine Vorfahrt missachtet und sei dadurch unmittelbar im Kreuzungsbereich am Fuße der Auffahrt auf die B 70 mit ihm kollidiert. Hierdurch seien an seinem Fahrzeug Schäden entstanden, deren Reparatur Gesamtkosten von EUR 2989,99 verursachen werde. Hinzu komme eine bleibende merkantile Wertminderung in Höhe von EUR 450,00. Weiter habe er EUR 568,00 € für die Begutachtung des Fahrzeugs zur Feststellung der unfallbedingten Schäden aufgewandt. Er hat darüber hinaus Ersatz einer Kostenpauschale von 25,00 € sowie Kosten der Einsicht in die Ermittlungsakten des Landkreises Emsland wegen des Vorfalls in Höhe von 12,00 € verlangt.

Vor dem Amtsgericht hat der Kläger beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn EUR 4.044,99 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus EUR 4.032,99 seit dem 6.7.2016 und aus weiteren EUR 12,00 seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 413,90 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten haben behauptet, der Beklagte zu 2. habe die Vorfahrt beachtet. Er habe zunächst gewartet und nach links geblickt. Er sei dann bei freier Fahrbahn nach rechts auf die Auffahrt zur B 70 aufgefahren. Erst dort sei es unmittelbar hinter dem Kreuzungsbereich am Fuße der Auffahrt zum Unfall gekommen. Der Kläger sei nämlich verbotswidrig von schräg links über die Gegenfahrbahn auf die Auffahrt aufgefahren und habe dann noch versucht, den Beklagten zu 2. vor Erreichen der Hauptfahrbahn der B 70 in der Auffahrt zu überholen. Der Beklagte zu 2. habe eine Kollision nicht mehr verhindern können. Im Übrigen haben die Beklagten geltend gemacht, die Schäden am klägerischen Fahrzeug seinen jedenfalls teilweise nicht unfallbedingt entstanden.

Das Amtsgericht hat Beweis erhoben durch Anhörung der Parteien sowie Vernehmung der Zeugen K. und R.. Es hat weiter das Gutachten des Sachverständigen D. aus dem Ordnungswidrigkeitenverfahren zum Aktenzeichen 2 OWi 144 JS 82202/16 vor dem Amtsgericht Papenburg verwertet und ein ergänzendes Sachverständigengutachten des Sachverständigen D. eingeholt, zu dessen Inhalt der Sachverständige S., der an dem Gutachten mitgewirkt hat, ergänzend persönlich gehört worden ist.

Das Amtsgericht hat der Klage mit Urteil vom 19.9.2018 zum Teil stattgegeben und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger EUR 2.022,50 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 2.016,50 € seit dem 6.7.2016 sowie aus weiteren EUR 6,00 seit dem 7.6.2016 zu zahlen sowie außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 281,30 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7.6.2016. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Zur Begründung das Amtsgericht im Wesentlichen ausgeführt, sämtliche Schäden am klägerischen Fahrzeug seien durch den Unfall verursacht. Eine Eintrittspflicht der Beklagten aus §§ 7, 18 StVG, 115 VVG bestehe jedoch nur im Umfang von 50% des Schadens. Den Unfallhergang hätten die Parteien jeweils unterschiedlich dargestellt, was bei Wahrbeweis jeweils zu unterschiedlichen Haftungsquoten geführt hätte. Keine dieser Schilderung habe sich allerdings belegen oder widerlegen lassen. Vor diesem Hintergrund sei eine hälftige Haftungsteilung angemessen. Wegen des weiteren Inhalts wird auf das angegriffene Urteil Bezug genommen.

Gegen dieses ihm am 24.9.2018 zugestellte Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt mit Schriftsatz vom 15.10.2018, eingegangen beim Landgericht am selben Tag. Zur Begründung hat der Kläger mit Schriftsatz vom 26.11.2018, bei Gericht am selben Tag eingegangen, ausgeführt, die teilweise Klageabweisung sei zu Unrecht erfolgt. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts Papenburg sei unzureichend. Es habe die Aussage der Zeugin K. nicht vollständig berücksichtigt. Diese habe als Polizeibeamtin den Unfall aufgenommen. Sie habe bestätigt, dass der Beklagte zu 2. dabei zunächst angegeben habe, der Kläger habe ihm die Vorfahrt genommen. Erst nachdem sie, die Zeugin, ihn darauf aufmerksam gemacht habe, dass der Kläger Vorfahrt gehabt habe, habe der Beklagte zu 2. die dann später auch mit der Klageerwiderung vorgetragene Schilderung abgegeben. Weiter habe das Amtsgericht nicht zureichend berücksichtigt, dass nach den Schilderung des Sachverständigen D. selbst bei Wahrunterstellung des Beklagtenvortrags der Beklagte zu 2. den Kläger durchgehend hätte sehen müssen. Dann aber sei dieser gehalten gewesen, den Kläger trotz Nutzung des falschen Fahrstreifens gefahrlos passieren zu lassen. Im Übrigen hat der Kläger auf sein erstinstanzliches Vorbringen Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

1. unter Abänderung des Urteils des Amtsgerichts Papenburg, Aktenzeichen 3 C 598/16 die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn EUR 4.044,99 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus EUR 4.032,99 seit dem 6.7.2016 und aus weiteren EUR 12,00 seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 413,90 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagten verteidigen die angegriffene Entscheidung. Sie nehmen auf ihr erstinstanzliches Vorbringen Bezug und machen ergänzend geltend, die amtsgerichtliche Beweiswürdigung sei zutreffend. Insbesondere hätte die Zeugin K. nicht ausdrücklich erklärt, der Beklagte zu 2. habe zunächst behauptet, der Kläger habe ihm die Vorfahrt genommen. Vielmehr habe der Beklagte zu 2. zu allen Zeiten den Unfall so geschildert, wie auch im Verfahren. Bei den Äußerungen des Sachverständigen S. zu den Sichtverhältnissen habe es sich lediglich um Vermutungen gehandelt. Tatsächlich habe der Beklagte zu 2. den Kläger nicht sehen können.

Mit Zustimmung der Parteien hat das Gericht mit Beschluss vom 2.1.2019 das schriftliche Verfahren mit einer Erklärungsfrist bis zum 25. 1. 2019 angeordnet.

II.

Die Berufung ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg und führte zur Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils im Sinne einer vollständig klagestattgebenden Entscheidung wie aus dem Tenor ersichtlich. Die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung als die des Amtsgerichts (§ 513 Abs. 1 ZPO). Sie führen zu einer alleinigen Haftung der Beklagten für die unfallbedingten Schäden. Die Feststellungen des Amtsgerichts zu deren Umfang waren in der Berufung nicht angegriffen worden. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:

1. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Amtsgericht ausgeführt, dass bei einem Verkehrsunfall grundsätzlich eine Haftung der Fahrzeughalter aus § 7 Abs. 1 StVG besteht, die unmittelbar auch gegen den Haftpflichtversicherer des Fahrzeugs geltend gemacht werden kann (§ 115 VVG). Für den Fahrer des Fahrzeugs gilt dasselbe, sofern er nicht ausnahmsweise den Entlastungsbeweis des fehlenden Verschuldens führen kann (§ 18 Abs. 1 Satz 2 StVG).

2. Ebenso zutreffend hat das Amtsgericht ausgeführt, dass bei einem Verkehrsunfall unter Beteiligung zweier Kraftfahrzeuge an einem Unfall nach §§ 18Abs. 3, 17 Abs. 1 und 2 StVG eine Haftungsabwägung zu erfolgen hat, bei der die Betriebsgefahr und die Verursachungsbeiträge der beteiligten Fahrzeuge gegeneinander abgewogen werden.

a) Etwas Anderes gilt nur dann, wenn der Unfall für einen der Beteiligten unvermeidbar i.S.d. §§ 17 Abs. 3 StVG war. Das ist hier nicht der Fall. Unvermeidbar ist ein Unfall nur dann, wenn auch ein Idealfahrer ihn nicht hätte verhindern können. Eine solche Unvermeidbarkeit kann hier keine der Parteien für sich in Anspruch nehmen, unabhängig davon, welchen Vortrag zum genauen Unfallhergang man zugrunde legt. Aus Sicht des Klägers hätte auch bei Wahrunterstellung seines Vortrags die Möglichkeit eines Fehlverhaltens des Beklagten zu 2. stets im Raum stehen müssen. Ein Idealfahrer hätte daher das Fahrverhalten des Beklagten zu 2. stets beobachtet und sich bremsbereit gehalten oder gleich auf das Vorfahrtsrecht verzichtet. Dass hierdurch der Unfall nicht hätte vermieden werden können, ist jedenfalls nicht belegt. Aus Sicht des Beklagten zu 2. hätte in jedem Fall die Möglichkeit bestanden, den Kläger gefahrlos passieren zu lassen. Selbst bei einem von den Beklagten behaupteten Überholmanöver des Klägers hätte er dieses durch vorausschauendes Beobachten des gesamten Verkehrs erkennen und durch rechtzeitiges Bremsen vermeiden können.

b) Im Rahmen der damit erforderlichen Haftungsabwägung (§§ 18Abs. 3, 17 Abs. 1 und 2 StVG) trägt jeweils eine Partei die Darlegung- und Beweislast für unfallursächliche Sorgfaltspflichtverstöße der anderen Partei. Auch dies hat das Amtsgericht zutreffend dargelegt. Nicht gefolgt werden kann dem Amtsgericht dann allerdings in der Einschätzung, dass daraus hier in einer Haftungsaufhebung resultiert, weil die wechselseitig vorgeworfenen Verkehrsverstöße weder belegt noch widerlegt seien. Diese Wertung des Amtsgerichts übersieht, dass hier zulasten der Beklagten ein Anscheinsbeweis greift, den diese nicht zu erschüttern vermocht haben. Dazu im Einzelnen:

aa) Zutreffend ist zunächst, wenn das Amtsgericht angenommen hat, ein Verkehrsverstoß der klagenden Partei sei nicht bewiesen. Insoweit ist der amtsgerichtlichen Beweiswürdigung vollumfänglich zu folgen. Darin ist zutreffend ausgeführt, dass einzig der Beklagte zu 2. ein verkehrswidriges Verhalten des Klägers durch Nutzung der Gegenfahrbahn (§ 2 Abs. 1 Satz 1 StVO) geschildert hat. Dies genügt nicht, um ein solches als bewiesen anzusehen. Beweismittel, die die Richtigkeit dieser Schilderung belegen würden, existieren nicht. Insbesondere hat keines der eingeholten Sachverständigengutachten dies belegen können. Danach könnten die Unfallfolgen zu einem solchen Geschehen passen, einen eindeutigen Rückschluss lassen sie aber nicht zu. Die Schilderung des Beklagten zu 2. allein genügt bei dieser Lage nicht, um ihre Richtigkeit als bewiesen anzusehen.

Die Glaubhaftigkeit der Einlassung des Beklagten zu 2. unterliegt im Übrigen selbst, ohne dass es darauf noch ankäme, massiven Zweifeln. Insbesondere hat die Zeugin K. ausgesagt, der Beklagte zu 2. habe zunächst angegeben, Vorfahrt gehabt zu haben, weil er von rechts gekommen sei. Erst als sie mit ihm die Beschilderung in Augenschein genommen habe, habe er seine Schilderung geändert. Dieser Aussage misst das Gericht erhebliche Bedeutung zu. Die Zeugin K. war als Polizeibeamtin an den Unfallort gerufen worden. Sie war daher in erhöhtem Maße wahrnehmungsbereit und hatte besonders auf die Aussagen der Beteiligten geachtet. Zugleich hat sie keinerlei Eigeninteresse am Ausgang des Rechtsstreits, sodass bei ihr in besonderem Maße eine neutrale und sachliche Aussage zu erwarten ist. In der Sache zieht ihre Aussage die Schilderung des Beklagten zu 2. in massiven Zweifel. Die von der Zeugin beschriebene Änderung des Aussageinhalts nach Kenntnisnahme von der Verkehrsregelung lässt deutlich besorgen, dass das Eigeninteresse des Beklagten zu 2., die eigene Unfallbeteiligung herunterzuspielen, seine Einlassung beeinflusst hat.

bb) Auf Beklagtenseite ist dagegen ein Verstoß gegen das durch entsprechende Beschilderung angeordnete Verbot, die Vorfahrt des Klägers zu achten, in die Abwägung einzustellen (§§ 39Abs. 2 Satz 1, 42 Abs. 1 und 2 StVO i.V.m. Zeichen 205 der Anlage 2 zur StVO). Insoweit kann der Beweiswürdigung des Amtsgerichts nicht gefolgt werden, wenn es davon ausgegangen ist, auch ein unfallursächlicher Verkehrsverstoß des Beklagten zu 2. sei nicht bewiesen. Das Amtsgericht hat hier unberücksichtigt gelassen, dass gegen den Beklagten zu 2. der Beweis des ersten Anscheins einer unfallursächlichen Missachtung des Vorfahrtsrechts des Klägers streitet.

(1) Ein Beweis des ersten Anscheins ist immer dann anzunehmen, wenn sich in einem (Unfall-)Geschehen ein hinreichend typisierter Geschehensablauf realisiert hat, der einen Rückschluss auf ein unfallursächliches Fehlverhalten einer Partei regelmäßig zulässt. So liegt der Fall hier. Der Unfall hat sich im Bereich einer Kreuzung ereignet, bei der der Beklagte zu 2. durch Beschilderung mit dem Zeichen 205 wartepflichtig war. In einem solchen Fall eines Unfalls im Bereich einer Kreuzung mit Wartepflicht eines Unfallbeteiligten kann regelmäßig angenommen werden, dass unfallursächlich eine Missachtung der Wartepflicht war (BGH NJW 1998, 2222; VersR 1964, 639, 640; VersR 1976, 365, 367).

Dies gilt unabhängig davon, ob der Unfall sich unmittelbar im Einmündungsbereich ereignet hat, wie die klagende Partei behauptet, oder einige Meter davon entfernt, wie die beklagte Partei behauptet. Der Anscheinsbeweis zulasten des Wartepflichtigen ist nämlich solange gerechtfertigt, bis der Wartepflichtige sich vollständig in den fließenden Verkehr auf der bevorrechtigten Straße eingeordnet hat. Denn auch wenn es in dieser Phase des Einordnens zu einer Kollision kommt, ist regelmäßig der Schluss gerechtfertigt, dass aus Sicht des Wartepflichtigen ein gefahrloses Einfahren nicht möglich war (OLG München, NZV 1989, 438; AG Dresden NJW-RR 2017, 1108). Dieser Zustand war hier auch nach dem Beklagtenvortrag noch nicht erreicht. Auch danach kam es zu der Kollision, noch während beide Fahrzeuge sich in der Auffahrt befanden und (wieder) auf die dort zulässige Geschwindigkeit beschleunigten. Auch nach dem Vortrag der Beklagten hat der Vorfall sich damit noch im Bereich der Einmündung der vom Beklagten zu 2. benutzten Rechtsabbiegerspur von der R.-Straße auf die B 70 und deutlich vor der Einmündung der Auffahrt auf die Hauptfahrbahn der B 70 ereignet.

Dass tatsächlich der Unfall sich noch im Kreuzungsbereich oder allenfalls unmittelbar dahinter ereignet haben muss, wird im Übrigen belegt durch die glaubhafte Aussage der Zeugin K., die bei ihrem Eintreffen am Straßenrand wartenden Fahrzeuge hätten allenfalls 20m von der Einmündung entfernt gestanden. Unter Berücksichtigung der Bremsphase kann der Unfall damit nicht einmal 20m von der Einmündung, aus der der Beklagte zu 2. kam, entfernt stattgefunden haben. Ebenso belegen dies die Lichtbilder Blatt 157 Bd. I der Akten, die die Position der unfallbeteiligten Fahrzeuge bei Eintreffen der Polizei zeigen. Auch hier ist erkennbar, dass die Fahrzeuge nur wenige Meter von der Einmündung entfernt zum Stand gekommen waren.

(2) Es ist der Beklagtenseite auch nicht gelungen, den damit gegen sie streitenden Anscheinsbeweis in erheblicher Weise zu erschüttern. Dies ist immer dann der Fall, wenn ernsthaft die Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs im Raum steht, sodass die Typizität des Geschehensablaufs, die die Annahme eines Anscheinsbeweises erst rechtfertigt, nicht mehr gegeben ist (BGH VersR 2006 931; VersR 1989, 54, 55). Entsprechendes ist hier nicht der Fall. Die Schilderung der Beklagtenseite, der Kläger sei über die Gegenfahrbahn in die Auffahrt abgebogen, genügt zur Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht. Es handelt sich um eine bloße theoretische Möglichkeit, die zur Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht ausreicht. Zudem hat die Erhebung der angebotenen Beweise, hier des Sachverständigenbeweises, die Schilderung des Beklagten zu 2. nicht stützen können.

Es wäre zunächst im Einzelnen zu fragen, ob überhaupt diese Schilderung der beklagten Partei rechtlich geeignet ist, die Voraussetzung des Anscheinsbeweises infrage zu stellen. Denn das Vorfahrtsrecht des Bevorrechtigten, hier des Klägers, gilt auf der gesamten Breite der Fahrbahn. Er wäre im Übrigen auch in diesem Fall, dies zeigen die Lichtbilder von der Unfallörtlichkeit Blatt 174-175 Bd. I der Akten, für den Kläger gut erkennbar gewesen. Ein Fahrzeug auf Position des Beklagten zu 2. hatte gute Sicht nach links und nach vorne; die wenigen Verkehrsschilder auf der vor ihm liegenden flachen Verkehrsinsel ändern daran nichts. Insoweit wäre selbst bei einer verkehrswidrigen Nutzung des linken Fahrstreifens der Beklagte zu 2. verpflichtet gewesen, den Vorrang des Klägers zu respektieren.

All dies kann aber im Ergebnis offenbleiben. Denn nicht jede hypothetische Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs genügt, einen Anscheinsbeweis zu erschüttern. Vielmehr muss die entsprechende Möglichkeit ernsthaft im Raum stehen. Das ist hier, wie bereits ausgeführt, nicht der Fall. Der von dem Beklagten geschilderte Unfallablauf ist durch keinerlei objektive Beweismittel gestützt. Die Schilderung des Beklagten zu 2. unterliegt wie dargelegt massiven Glaubhaftigkeitszweifeln. Die Schilderung einer Partei genügt aber in der Regel ohnehin ohne weitere Beweismittel nicht, einen Anscheinsbeweis in erheblicher Weise zu erschüttern (BGH VersR 2007, 681). Hier ist zudem der beklagtenseitig behauptete Ablauf mehr als unplausibel. Er würde ein erhebliches verkehrswidriges und auch für ihn (mangels Einsehbarkeit des linken Fahrsteifens auf eventuelle abfahrende Fahrzeuge) hochgefährliches Verhalten des Klägers ohne einen erkennbaren Vorteil für ihn voraussetzen. Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte.

cc) Es ist damit in der Haftungsabwägung nach §§ 17Abs. 1 und 2, 18 StVG von einem Vorfahrtpflichtverstoßes des Beklagten zu 2. auszugehen. Dem steht auf Klägerseite allein die generelle Betriebsgefahr gegenüber. In der Abwägung der Verursachungsbeiträge tritt diese hier vollständig zurück.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Verkehrsregelung an der Unfallstelle gerade dazu dient, den Linksabbieger, hier den Kläger, insoweit zu entlasten, dass er auf den geradeaus fahrenden Gegenverkehr, nicht aber zusätzlich auf andere, aus er Gegenrichtung abbiegende Fahrzeuge achten muss. Es hat sich damit in dem Unfall exakt die Gefahr realisiert, vor der – auch dem Beklagten zu 2. erkennbar – die Verkehrsregelung schützen soll.

Zudem ergibt sich aus der glaubhaften Aussage der Zeugin K., der Beklagte zu 2. habe zunächst sich als bevorrechtigt angesehen, ebenso wie seinen eigenen Ausführungen, den Kläger zunächst gar nicht gesehen zu haben, dass der Beklagte zu 2. in ganz erheblicher Weise die verkehrsübliche Sorgfalt missachtete und weder dem übrigen Verkehr noch der Beschilderung Aufmerksamkeit schenkte. Dies stellt einen besonders krassen Fall des Verstoßes gegen eine Vorfahrtsregelung dar und wiegt schwerer als etwa eine Fehleinschätzung der Geschwindigkeit des vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmers durch den Wartepflichtigen. Noch einmal schwerer wiegt dies, weil am Unfalltag nach übereinstimmender Schilderung die Sichtverhältnisse gut waren, sodass der Beklagte zu 2. das Klägerfahrzeug bei gebotener Aufmerksamkeit leicht hätte erkennen müssen.

Demgegenüber hätte zwar ein Idealfahrer anstelle des Klägers bei sehr vorausschauender Fahrweise möglicherweise den Unfall verhindern können. In der unmittelbaren Unfallsituation hatte der Kläger aber kaum eine Möglichkeit, den Zusammenstoß noch zu vermeiden. Gefahrerhöhende Momente sind auf seiner Seite nicht erkennbar. Die Betriebsgefahr ist daher nicht erhöht und wird im Ergebnis durch den erheblichen Sorgfaltspflichtverstoß des Beklagten zu 2. verdrängt.

3. Den ihm unfallbedingt entstandenen Schaden kann der Kläger damit in voller Höhe ersetzt verlangen (§§ 7, 18 StVG, 249 ff. BGB, 115 VVG).

a) Hinsichtlich der nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB in Geld zu ersetzenden Sachschäden sind die durch die Beweisaufnahme, insbesondere das Sachverständigengutachten des Sachverständigen D., gestützten Feststellungen des Amtsgerichts zur Schadenshöhe mit der Berufung nicht angegriffen worden. Es war daher beim Schadensumfang von dem vom Amtsgericht festgestellten Schadensbetrag auszugehen. Gleiches gilt für die Kosten des vorgerichtlichen Gutachtens und die Schadenspauschale sowie die Kosten der Akteneinsicht. Dies ergibt in der Summe den tenorierten Betrag.

b) Die Höhe der nach §§ 7, 18 StVG, 249 BGB, 115 VVG ersatzfähigen Anwaltskosten ergibt sich aus §§ 2, 13 RVG i.V.m. Nrn. 2300, 7002, 7008 VV RVG, wobei als Gegenstandswert entsprechend der Hauptsacheentscheidung ein Betrag von bis zu EUR 5.000,00 anzusetzen war.

c) Zur Zinshöhe und zum jeweiligen Beginn der Verzinsung war ebenfalls von den nicht angegriffenen Feststellungen des Amtsgerichts auszugehen.

III.

1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.

2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708Nr. 10, 711,713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

3. Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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