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Mithaftung einer 12-Jährigen bei unachtsamen Überqueren einer Straße

OLG Stuttgart, Az.: 13 U 143/16, Urteil vom 09.03.2017

Kind beim überqueren einer strasse
Symbolfoto: romrodinka / Bigstock

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn vom 02.09.2016 dahin abgeändert, dass unter Abweisung der Klage im Übrigen festgestellt wird, dass die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 17.04.2015 in L. unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils der Klägerin von 2/3 zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialleistungsträger und sonstige Dritte übergegangen sind

und

die Beklagten verurteilt werden, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 413,64 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszins seit 04.11.2015 als Gesamtschuldner und für die Zeit vom 01. bis zum 03.11.2015 die Beklagte Ziff. 2 allein zu bezahlen.

2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 1/3 und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 2/3.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Streitwert der Berufung: 5.500,00 €

Gründe

I.

Die Klägerin, eine am … 2002 geborene Schülerin, verlangt hälftigen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 17.04.2015 kurz nach 22:00 Uhr auf der Ortsdurchfahrt in L. ereignete. Das Landgericht sah den Unfall als für den Beklagten Ziff. 1 unabwendbar an und wies die Klage mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen tatsächliche Feststellungen Bezug genommen wird, ab. Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche auf hälftigen Schadensersatz weiter.

Die Klägerin beantragt:

1. Das Urteil der Einzelrichterin des Landgerichts Heilbronn vom 02.09.2016 wird abgeändert; es wird festgestellt, dass die Beklagten/Berufungsbeklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 17.04.2015 in L. mit einer Quote von 50% zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialleistungsträger und sonstige Dritte übergegangen sind.

2. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin außergerichtliche Rechtverfolgungskosten in Höhe von EUR 571,44 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit als Gesamtschuldner zu ersetzen.

Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

II.

Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg. Die Klägerin hat gemäß §§ 7 Abs. 1, 9 StVG Anspruch auf Schadensersatz unter Berücksichtigung eines eigenen Mithaftungsanteils von 2/3.

1.

Die Beklagten haften nach § 7 Abs. 1 StVG, wonach der Halter verpflichtet ist, dem Verletzten den Schaden zu ersetzen, den dieser beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs erleidet.

2.

Ausgeschlossen ist die Ersatzpflicht nach § 7 Abs. 2 StVG nur, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wurde, was unstreitig nicht der Fall ist.

Der Gesetzgeber hat sich mit dem Abstellen auf die höhere Gewalt vom Ausschlusstatbestand des unabwendbaren Ereignisses nach § 7 Abs. 2 StVG a.F., das vorliegt, wenn der Unfall auch durch äußerste Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte, verabschiedet. Damit sollte gerade im Bereich der Kinderunfälle das als unbillig empfundene Ergebnis vermieden werden, dass Kindern im Falle eines unabwendbaren Ereignisses kein Ersatzanspruch zustand. Ziel der Änderung war es, die Position von nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern zu stärken, was neben Kindern älteren Menschen und sonstigen hilfsbedürftigen Personen zugutekommt (Burmann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl. 2016, § 7 Rn. 17 m.w.N.).

3.

Eingeschränkt ist die Halterhaftung nach dem unverändert gebliebenen § 9 StVG, wonach § 254 BGB anzuwenden ist, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat, wobei die Darlegungs- und Beweislast für ein Mitverschulden den Schädiger trifft. Bei besonderen Fallgestaltungen kann die Abwägung der Verursachungsbeiträge zu dem Ergebnis kommen, dass einer der Beteiligten alleine für den Schaden aufzukommen hat. Eine vollständige Kürzung unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens ist aber nur ausnahmsweise in Betracht zu ziehen. Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge sind nur feststehende Umstände, die für das Ereignis zumindest mit kausal waren, einzubeziehen. Nur vermutete oder nur mögliche Tatbeiträge haben außer Betracht zu bleiben (Heß a.a.O. § 9 StVG Rn. 2 m.w.N.).

a)

Nach § 254 Abs. 1 BGB hängen die Verpflichtung zum Ersatz und der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Dabei ist in einem ersten Schritt der Verursachungsbeitrag beider Seiten zu ermitteln, wobei zu beachten ist, dass nur feststehende Umstände berücksichtigt werden dürfen, und zwar nur solche, die sich auf den Unfall, also auf den Unfallhergang oder auf den Schadensumfang, ausgewirkt haben. In einem zweiten Schritt sind die beiderseitigen Verursachungsbeiträge gegeneinander abzuwägen, wobei zu beachten ist, dass hier immer nur auf Seiten des Schädigers die Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs mitgewirkt hat und den Verantwortungsanteil beeinflusst (Heß a.a.O. Rn. 12).

b)

Jugendliche über 10 und unter 18 Jahren müssen sich nach §§ 828 Abs. 3, 254 BGB eine Anspruchskürzung gefallen lassen, wenn sie ein Mitverschulden trifft, es sei denn, sie hatten bei der Begehung der schädigenden Handlung noch nicht die erforderliche Einsicht. Das Mitverschulden muss der Schädiger nachweisen; es kommt insoweit auf das Wissen und Können der Altersgruppe an, der der Jugendliche angehört (Gruppenfahrlässigkeit). Die fehlende Einsichtsfähigkeit muss der Jugendliche nachweisen (Heß a.a.O. Rn. 14). Bei der Abwägung muss berücksichtigt werden, dass ein Fehlverhalten im Straßenverkehr insbesondere bei jüngeren Jugendlichen weniger schwer wiegt als bei einem Erwachsenen. Auf Seiten des Kraftfahrers kann die Betriebsgefahr durch Verschulden erhöht sein. Es kann deshalb zu bejahen sein, weil er die besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 3 Abs. 2 a StVO nicht beachtet hat. Danach hat sich der Kraftfahrer u.a. gegenüber Kindern durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so zu verhalten, dass eine Gefährdung der Kinder ausgeschlossen ist. Die Grenze liegt bei ca. 14 Jahren; für den Kraftfahrer muss erkennbar gewesen sein, dass der Verletzte dieser Altersgruppe angehört (Heß a.a.O. Rn. 15 m.w.N.).

Zwar kann das Verschulden des Jugendlichen so schwer wiegen, dass dahinter die einfache Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs zurücktritt; in der Regel wird sie aber, insbesondere bei jüngeren Jugendlichen, nicht voll zurücktreten (Heß a.a.O. Rn. 16 m.w.N.).

c)

Unstreitig ist, dass die Klägerin die Fahrbahn unter Verstoß gegen ihre Pflichten nach § 25 Abs. 3 S. 1 StVO, wonach Fußgänger die Fahrbahn nur unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs überqueren dürfen, unachtsam überquerte und sie die erforderliche Einsichtsfähigkeit im Sinne von § 828 Abs. 3 BGB hatte.

d)

Richtig ging das Landgericht davon aus, dass dem Beklagten Ziff. 1 ein Verschulden nicht anzulasten ist, weil ein Verstoß gegen die Aufmerksamkeitspflicht nach § 1 StVO bzw. eine verspätete Reaktion nicht feststellbar war. Richtig stellte das Landgericht darauf ab, dass keiner der Zeugen konkrete Angaben zum Unfallgeschehen machen konnte und der Sachverständige mangels konkreter Anknüpfungstatsachen den Unfall nicht ausreichend rekonstruieren und kein Fehlverhalten des Beklagten Ziff. 1 feststellen konnte. Der Sachverständige ermittelte auf der Grundlage einer Geschwindigkeit von ca. 40 km/h, wie der Beklagte Ziff. 1 sie unwidersprochen angegeben hatte, eine zur Unfallvermeidung nicht ausreichende Reaktionszeit von ca. 0,5 s, die dem Beklagten Ziff. 1 bis zur Kollision verblieb, nachdem die Klägerin hinter dem Bus hervorgetreten war.

Obwohl die Überdeckung der Klägerin und des Motorrads bei der Kollision nur ca. 30 cm betrug, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es nicht zum Unfall gekommen wäre, wenn der Beklagte Ziff. 1 etwas langsamer gefahren wäre, als die Klägerin hinter dem Bus hervortrat, weil dann die Klägerin den Gefahrenbereich bereits verlassen gehabt hätte, als das Motorrad die Unfallstelle erreichte. Der Sachverständige erklärte ausweislich S. 7 des Protokolls: „Sofern man hier die durchschnittliche Laufgeschwindigkeit einer 12-jährigen annimmt, kann man sagen, dass etwa 0,09 Sekunden später die Klägerin aus dem Verkehrsraum gewesen und es nicht zur Kollision gekommen wäre.“ Der Beklagte Ziff. 1 fuhr nicht zu schnell und es verblieb, als er die Klägerin bemerken und reagieren konnte, nicht genügend Zeit, um bis zum Erreichen der Unfallstelle eine Bremsung einleiten zu können.

e)

Die Berufung macht demgegenüber ohne Erfolg geltend, das Landgericht habe verkannt, dass der Sachverständige zwischen einem Unfall bei Tag und bei Nacht, wie er tatsächlich vorliege, unterschieden und für letzteren darauf hingewiesen habe, dass der Beklagte Ziff. 1 durch das Abblendlicht des Busses geblendet gewesen sein könnte und dann seine Geschwindigkeit hätte herabsetzen müssen. Der Sachverständige konnte einen Verstoß gegen das Sichtfahrgebot (§ 3 Abs. 1 StVO) gerade nicht feststellen. Er hielt die Blendung nur für möglich. Der Sachverständige erklärte auf Nachfrage des Beklagtenvertreters ausdrücklich, er könne den Nachweis, dass der Beklagte Ziff. 1 geblendet worden sei, nicht führen. Dies könne, müsse aber nicht so gewesen sein (S. 7 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 10.08.2016 vor dem Landgericht Heilbronn).

f)

Ebenfalls ohne Erfolg macht die Berufung geltend, der Beklagte Ziff. 1 habe aufgrund der gesamten für ihn erkennbaren Situation besonders aufmerksam sein und die Geschwindigkeit herabsetzen müssen. Dazu bestand kein Anlass. Es kann entgegen der Darstellung der Berufung schon nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin den Nachweis führte, dass der Bus noch mit eingeschalteter Warnblinkanlage am Straßenrand stand, als es zum Unfall kam. Die Mutter der Klägerin erklärte ausweislich S. 3 des Protokolls der landgerichtlichen mündlichen Verhandlung bei ihrer Zeugeneinvernahme, nicht sagen zu können, ob die Warnblinkanlage im Unfallzeitpunkt noch in Betrieb war. Sie erklärte zwar auch, worauf die Berufung abstellt, der Bus sei erst nach dem Unfall weggefahren. Ebenso erklärte der Zeuge S., der den Bus fuhr, anlässlich seiner Zeugeneinvernahme ausweislich S. 4 des Protokolls, die Warnblinkanlage sei ausgegangen, als er den Blinker zum Wegfahren gesetzt habe. Nachdem der Zeuge S. ausweislich S. 4 des Protokolls auch aussagte, beim Losfahren in den Außenspiegel gesehen und nichts bemerkt zu haben, kann allerdings nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Unfall zu diesem Zeitpunkt bereits geschehen war und damit auch nicht davon, dass der Bus im Unfallzeitpunkt noch mit eingeschalteter Warnblinkanlage am Straßenrand stand. Doch selbst wenn dem so gewesen wäre, ergäbe sich daraus keine Verpflichtung des Beklagten Ziff. 1 zu erhöhter Aufmerksamkeit oder zur Herabsetzung seiner Geschwindigkeit. Er hatte keinen Anlass zu der Annahme, ausgestiegene Fahrgäste könnten unbedacht die Fahrbahn queren. Nach der unstreitigen Darstellung der Klägerin, die nicht zu sehen war, weil sie hinter den Bus gelaufen war, war nur noch ein Junge ausgestiegen, der auf der Straßenseite, auf welcher der Bus angehalten hatte, von seiner Mutter erwartet wurde. Lediglich wenn eine größere Anzahl von Kindern aus dem Bus ausgestiegen und in Bewegung gewesen wäre, hätte für den Beklagten Ziff. 1 Anlass zu besonderer Vorsicht bestanden (§ 3 Abs. 2 a StVO). Auch war der Bus nicht als Schulbus zu erkennen. Es handelte sich um einen Reisebus.

Ohnehin gilt der Vertrauensgrundsatz, sodass der Beklagte Ziff. 1 annehmen durfte, dass die anderen Verkehrsteilnehmer sich verkehrsgerecht verhalten würden. Erst recht musste er deshalb nicht mit Fehlverhalten von gar nicht sichtbaren Personen rechnen.

g)

Denkbar wäre nach dem Gutachten auch ein Sorgfaltspflichtenverstoß des Beklagten Ziff. 1 durch Tragen eines Helms mit dunklem Visier, was – wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen ergibt (S. 6 des Protokolls) – ebenso wie die Blendung die Sicht beeinträchtigt hätte. Feststellbar ist dieser Verstoß aber nicht. Die darlegungs- und beweispflichtige Klägerin behauptete nicht, der Beklagte Ziff. 1 habe einen Helm mit dunklem Visier getragen, sondern wies in der Berufungsbegründung nur allgemein auf die vom Sachverständigen dargestellte Problematik hin, so dass kein Anlass zu weiterer Aufklärung bestand, zumal der Beklagte Ziff. 1 in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat unwidersprochen erklärte, nicht mit dunklem Visier gefahren zu sein.

h)

Festgehalten werden kann damit, dass dem Beklagten Ziff. 1 ein unfallursächliches Verschulden nicht nachzuweisen ist. Für die nach § 9 StVG vorzunehmende Abwägung ist aber ebenso festzuhalten, auch wenn dies kein gesetzliches Kriterium mehr im Sinne von § 7 StVG ist, dass die Beklagten den Unabwendbarkeitsbeweis nicht führen könnten.

i)

Neben der Betriebsgefahr des Motorrads und dem Verschulden der Klägerin ist bei der vorzunehmenden Abwägung im Auge zu behalten, dass – wie oben erwähnt – bei Unfällen mit Jugendlichen deren Verschulden zwar so schwer wiegen kann, dass dahinter die einfache Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs zurücktritt, dies aber bei jüngeren Jugendlichen in der Regel nicht der Fall ist.

Der Bundesgerichtshof wies darauf hin, dass ein Mitverschulden von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Abwägung nach §§ 9 StVG, 254 BGB in der Regel geringer zu bewerten sei als das entsprechende Mitverschulden eines Erwachsenen und dass eine völlige Freistellung von der Gefährdungshaftung schon nach § 7 Abs. 1 StVG a.F. wegen eines grob verkehrswidrigen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen voraussetzte, dass der Sorgfaltsverstoß altersspezifisch auch objektiv besonders vorwerfbar ist (BGH, Urteil vom 18.11.2003 – VI ZR 31/02, juris Rn. 11 m.w.N.), wobei es in jenem Fall um einen 14-jährigen Radfahrer ging.

Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 10.06.2012 – 13 U 42/12, juris Rn. 11 m.w.N.) erachtete demgemäß, weil das Verschulden eines Kindes geringer als das eines Erwachsenen zu bewerten und die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs entsprechend ihrem Haftungszweck nur ausnahmsweise, wenn ein auch altersspezifisch subjektiv besonders vorwerfbarer Sorgfaltsverstoß des Kindes vorliegt, zurücktritt, ein Mitverschulden von 2/3 eines 10 Jahre und 9 Monate alten Kindes, das die Straße unachtsam überquert hatte, für angemessen.

Das OLG Saarbrücken (Urteil vom 24.04.2012 – 4 U 131/11, juris Rn. 63) folgte dem Hinweis des BGH ebenfalls und erachtete bei der Kollision eines 12-jährigen Radfahrers, der unachtsam aus einem Seitenweg auf eine Landstraße ausgefahren war, mit einem Pkw, dessen Lenker kein Verschulden traf, in der Abwägung eine hälftige Haftungsverteilung für angemessen.

Das Landgericht Erfurt (Beschluss vom 25.05.2012 – 2 S 262/11) kam bei einer Kollision zwischen einem 12-jährigen Kind, das hinter einem auf der Straße haltenden Kleintransporter unsichtbar auf die Straße lief und einem ordnungsgemäß vorbeifahrenden Pkw zu einer Haftungsverteilung von 70 % zu 30 % zu Lasten des Kindes.

j)

Das OLG Nürnberg (Urteil vom 14.07.2005 – 13 U 901/05) urteilte anders. Es hob darauf ab, dass sich durch das Zweite Gesetz zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19.07.2002 die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten von über 10-jährigen Verkehrsteilnehmern nicht geändert haben und kam deshalb zu einer Alleinhaftung eines 12-jährigen Radfahrers, der mit hoher Geschwindigkeit eine Kurve schnitt und deswegen mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidierte, was der BGH, der die Nichtzulassungsbeschwerde zurückwies (Beschluss vom 30.05.2006 – VI ZR 184/05), unter Hinweis darauf, dass die Entscheidung des OLG im Rahmen des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums liege, nicht beanstandete.

Ebenso war das OLG Naumburg (Beschluss vom 09.01.2013 – 10 U 22/12) der Auffassung, dass ein 11-Jähriger, der bei Dunkelheit zwischen parkenden Fahrzeugen auf die Fahrbahn läuft und von einem mit 24 bis 30 km/h fahrenden Pkw erfasst wird, allein haftet.

Ebenso erachtete das OLG Hamm (Urteil vom 13.07.2009 – 13 U 179/08, juris Rn. 29) einen 10-jährigen Jungen, der die Straße hinter einem Lkw überquerte, ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten und von einem ca. 40 km/h schnell fahrenden Fahrzeug erfasst wurde, für allein verantwortlich.

Ebenso erachtete das OLG Celle (Beschluss vom 08.06.2011 – 14 W 13/11) einen 11 1/2-jährigen Jungen, der außerorts eine Landstraße unachtsam überquerte und von einem Pkw erfasst wurde, für allein verantwortlich.

Doch kann dem nicht gefolgt werden, auch wenn die Klägerin im Unfallzeitpunkt bereits 12 Jahre und annähernd 7 Monate alt war.

k)

Für die Entscheidung unergiebig sind allerdings die von der Klägerin angeführten Entscheidungen des OLG Celle (NZV 1991, 228) und des OLG Düsseldorf (DAR 1976, 190). Diese Entscheidungen betreffen mit dem Streitfall nicht vergleichbare Sachverhalte. Es ging beim OLG Celle um einen 16-jährigen geistig schwachen Jungen bzw. beim OLG Düsseldorf um die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 20 km/h.

l)

Nach alledem liegt aufgrund der maßgeblichen Umstände des Streitfalles kein objektiv und subjektiv solch erhebliches Verschulden der Klägerin vor, dass die Betriebsgefahr des Motorrads ganz zurücktreten könnte. Unter Berücksichtigung des Alters der Klägerin im Unfallzeitpunkt von 12 Jahren und knapp 7 Monaten, auch wenn sie intelligent ist und die Verkehrsregeln im Unfallzeitpunkt kannte, ist mit Blick auf den langen Ausflugstag, die späte Stunde, die auf der anderen Straßenseite wartende Mutter der Klägerin und die – aus Sicht der Klägerin – Kurve nach rechts, die ihr am Bus vorbei nur eine kurze Strecke der Gegenfahrbahn zur Einsicht freigab, eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Klägerin angemessen. Der Klägerin war altersbedingt nicht klar, dass sie aufgrund der Rechtskurve am Bus vorbei nur ein kurzes Stück der Gegenfahrbahn überblicken konnte und sie hätte, um die Straße hinter dem Bus sicher überqueren zu können, warten müssen, bis der Bus sich entfernt hatte. Dies ergibt sich aus ihrer landgerichtlichen Anhörung. Sie erklärte ausweislich S. 2 des Protokolls vom 10.08.2016, sie „habe noch geguckt und gehört, habe allerdings nur den Bus gehört, da dieser noch an war,“ bevor sie über die Straße gerannt sei und auf Nachfrage des Beklagtenvertreters ergänzte, sie sei kurz stehengeblieben, habe den Kopf nach vorn geneigt, um am Bus vorbeizuschauen, wisse aber nicht mehr, ob sie tatsächlich vorbeischauen konnte. Zudem ist es nicht angemessen, die Betriebsgefahr des Motorrads als völlig untergeordnet erscheinen zu lassen, nachdem eine überhöhte Geschwindigkeit des Motorradfahrers in Folge Blendung durch das Abblendlicht des Busses nicht ausgeschlossen ist.

4.

Ausgehend von der Mithaftung der Klägerin zu 2/3 und dem Streitwert von 5.500,00 € bei hälftiger Haftung ergeben sich zu erstattende vorgerichtliche Anwaltskosten von 413,64 € (327,60 € + 20,00 € + 66,04 €).

III.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 91, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO, diejenige zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Revision war mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen nicht zuzulassen (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).

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