Oberlandesgericht Brandenburg – Az.: 12 U 115/17 – Urteil vom 28.11.2019
Die Berufung des Beklagten und die Anschlussberufung der Klägerin gegen das am 08.06.2017 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer – Einzelrichter – des Landgerichts Potsdam, Az.: 2 O 156/15 werden zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin zu 1/4 und der Beklagte zu 3/4 zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i. H. v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit i. H. v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt vom Beklagten aus übergegangenem Recht materiellen Schadensersatz sowie die Feststellung einer Schadensersatzpflicht des Beklagten für sämtliche künftigen Ersatzansprüche seit dem 14.08.2014 aus einem Verkehrsunfall vom … .07.2013 gegen … : … Uhr auf der Bundesstraße 1… bei P… in Höhe des Straßenabschnitts …, Kilometer …, bei dem der vom Beklagten geführte PKW … bei dem Versuch nach links in einen als Baustelleneinfahrt dienenden Feldweg abzubiegen mit dem vom Geschädigten F… G… geführten Motorrad kollidierte, das sich dabei befand den hinter dem Beklagten fahrenden Pkw der Zeugen K… und C… W… sowie das Fahrzeug des Beklagten zu überholen. Die Parteien streiten über die den Fahrern der unfallbeteiligten Fahrzeuge vorzuwerfenden Verkehrsverstöße und deren Auswirkung auf die Haftungsverteilung, insbesondere um einen Verstoß des Geschädigten G… gegen ein für die Unfallstelle angeordnetes Überholverbot. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts erster Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Mit am 08.06.2017 verkündetem Urteil hat das Landgericht den Beklagten verurteilt, an die Klägerin 47.527,02 € nebst Zinsen i. H. v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf einen Betrag von 25.347,74 € seit dem 20.08.2014 und auf einen Betrag von 22.179,28 € seit dem 28.11.2016 zu zahlen und festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche zukünftige Ersatzansprüche seit dem 14.08.2014 aus dem Schadensfall vom 30.07.2013 unter Berücksichtigung einer Mithaftungsquote von 75 % auszugleichen, die durch gesetzlichen Forderungsübergang auf die Klägerin übergegangen sind. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, ein Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen den Beklagten bestehe aus §§ 7, 17, 18 StVG, § 9 Abs. 1 StVO, § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. § 116 Abs. 1 SGB X. Dem Beklagten sei beim Abbiegen in die Baustelleneinfahrt ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 StVO anzulasten. Dabei spreche bereits ein Anscheinsbeweis für ein Alleinverschulden des Beklagten, auch stehe im Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass der Beklagte seiner doppelten Rückschaupflicht nicht nachgekommen sei, denn als er den Abbiegevorgang begonnen habe, hätte er das sich bereits im Überholvorgang befindliche Motorrad erkennen können. Hingegen sei dem Zeugen G… ein Verstoß gegen § 5 StVO Abs. 3 Nr. 1 StVO nicht vorzuwerfen. Eine unklare Verkehrslage im Sinne dieser Vorschrift habe nicht bestanden. Hierzu genüge es nicht, dass das vorausfahrende Fahrzeug seine Fahrt lediglich verlangsamt habe. Nicht bewiesen sei, dass der Geschädigte G… gegen ein ausgeschildertes Überholverbot verstoßen habe. Im Ergebnis der Beweisaufnahme stehe nicht fest, dass für den Bereich der Unfallstelle ein entsprechendes Verkehrsschild vorhanden gewesen sei. Die benannten Zeugen hätten das Vorhandensein eines solchen Schildes nicht bestätigen können. Auch in der polizeilichen Verkehrsunfallanzeige sei ein Überholverbotsschild anders als die eine Geschwindigkeitsbeschränkung anordnenden Schilder nicht aufgeführt. Der als Zeuge benannte R… B… sei nicht zu vernehmen gewesen, da er nach den eingereichten Unterlagen eine eigene Kenntnis zu den im Zeitpunkt des Unfalls aufgestellten Schildern mangels selbst durchgeführter Kontrollen nicht habe. Wegen der Begründung im Übrigen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 16.06.2017 zugestellte Urteil mit am 12.07.2017 beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und das Rechtsmittel nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 18.09.2017 mit an diesem Tage eingegangenem Schriftsatz begründet. Die Klägerin, der eine Frist zur Erwiderung auf die Berufung bis zum 10.11.2017 gesetzt worden ist, hat mit an diesem Tage eingegangenem Schriftsatz die Klage erweitert.
Der Beklagte bezieht sich auf seinen erstinstanzlichen Vortrag nebst Beweisangeboten. Er hält die Beweiswürdigung des Landgerichts für fehlerhaft und die Tatsachenfeststellung für unvollständig und unrichtig und rügt die Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Er habe erstinstanzlich vorgetragen, dass an der Unfallstelle ein Überholverbot durch Aufstellung des Verkehrszeichens 276 angeordnet worden sei. Die Klägerin habe dies zudem durch Einreichung der entsprechenden Auskunft der … Brandenburg GmbH vom 18.12.2013 unstreitig gestellt. Auch der Zeuge D… habe bei seiner Vernehmung durch das Landgericht bestätigt, dass das Überholverbot entsprechend der verkehrsrechtlichen Anordnung von Mai 2013 bis über den 24.12.2013 hinaus aufgestellt gewesen sei. Aus dem von ihm, dem Beklagten, eingereichten Kontrollbericht ergebe sich zudem, dass ein Schilderklau nicht vorgelegen habe. Vielmehr habe das Landgericht es verfahrensfehlerhaft unterlassen, den im Schriftsatz vom 12.02.2016 für die ordnungsgemäße Aufstellung des Verkehrszeichens und die entsprechende tägliche Kontrolle – auch am 30. und 31.07.2013 – benannten Zeugen R… B… zu vernehmen. Entgegen den Ausführungen des Landgerichts ergebe sich aus den eingereichten Unterlagen nicht, dass nicht der Zeuge, sondern dritte Personen die Schilder kontrolliert hätten. Auch sei im Verhandlungstermin am 11.05.2017 ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass der Zeuge B… sowohl am Tag vor dem Unfallereignis als auch am Folgetag persönlich die ordnungsgemäße Aufstellung des Überholverbotes kontrolliert habe. Das Vorliegen eines Überholverbotes sei entscheidungserheblich, da es bei Einhaltung des Überholverbotes durch den Geschädigten zu dem Unfall nicht gekommen wäre und er, der Beklagte, wegen des Überholverbotes nicht mit einem verkehrswidrig überholenden Fahrzeug habe rechnen müssen. Entgegen den Ausführungen des Landgerichts spreche zudem der Beweis des ersten Anscheins nicht für einen Verkehrsverstoß seinerseits. Der Anscheinsbeweis hinsichtlich der Verletzung der doppelten Rückschaupflicht greife schon deshalb nicht, weil vorliegend ein Fall des Kolonnenüberholens vorgelegen habe. Ferner liege ein ordnungsgemäßer Überholvorgang nicht vor, der ebenfalls Voraussetzung für die Anwendung des Anscheinsbeweises sei. Auch verdränge der Verstoß gegen ein Überholverbot einen Ihm, dem Beklagten, vorzuwerfenden Verkehrsverstoß. Schließlich habe auch eine unklare Verkehrslage im Sinne von § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO vorgelegen. Der Geschädigte G… habe infolge des von ihm, dem Beklagten, gesetzten linken Blinkers und der erheblichen Geschwindigkeitsreduzierung des vor dem Geschädigten fahrenden PKW sich über den Grund des Abbremsvorgangs vergewissern müssen und einen Überholvorgang nicht einleiten dürfen. Unzulässig sei die in der Berufungsinstanz vorgenommene Klageerweiterung, da eine Anschlussberufung nicht eingelegt worden sei.
Der Beklagte beantragt, unter Abänderung des am 11.05.2017 verkündeten Urteils des Landgerichts Potsdam, Aktenzeichen 2 O 156/15, die Klage abzuweisen und die Klageerweiterung als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
1. die Berufung zurückzuweisen sowie
2. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche künftigen Ersatzansprüche seit dem 14.08.2014 aus dem Schadensfall vom 30.07.2013 des Herrn F… G… auf der Bundesstraße 1…, Straßenabschnitt …, Kilometer … in … H…, Ortsteil P…, mit einer Haftungsquote von 100 % zu erstatten, die durch gesetzlichen Forderungsübergang auf sie übergegangen sind,
3. den Beklagten zu verurteilen, an sie weitere 15.842,34 € nebst Zinsen von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Klägerin bezieht sich ebenfalls auf ihr erstinstanzliches Vorbringen nebst Beweisangeboten und verteidigt das landgerichtliche Urteil. Zutreffend sei das Landgericht vom fehlenden Nachweis des Vorhandenseins eines ein Überholverbot anordnenden Verkehrszeichens im Unfallzeitpunkt ausgegangen. In der polizeilichen Verkehrsunfallanzeige sei entsprechendes nicht festgehalten. Auch habe keiner der vernommenen Zeugen bestätigt, dass das Verkehrsschild im Unfallzeitpunkt vorhanden gewesen sei, vielmehr habe der Geschädigte G… erklärt, ein solches Verkehrsschild sei erst später aufgestellt worden. Es sei auch nicht unstreitig gewesen, dass das Schild vorhanden gewesen sei. Hinsichtlich des mit Schriftsatz vom 12.02.2016 vorgelegten Schriftstücks sei bestritten worden, dass es sich um einen Kontrollbericht der Firma … Baustellensicherung handele. Zudem ergebe sich aus dem Schriftstück weder dessen Aussteller noch welche Verkehrszeichen kontrolliert worden seien. Im Schriftsatz vom 12.02.2016 habe der Beklagte auch nicht erklärt, dass der Zeuge R… B… die Kontrolle der Verkehrsschilder selbst durchgeführt habe oder aus eigener Wahrnehmung Angaben zum Vorhandensein des Überholverbotsschildes machen könne. Auch in der mündlichen Verhandlung vom 11.05.2017 habe der Beklagte nicht behauptet, dass der Zeuge B… die Kontrollen höchstselbst durchgeführt habe. Zudem wäre die entsprechende Erklärung verspätet gewesen. Zutreffend habe das Landgericht schließlich einen Anscheinsbeweis zulasten des Beklagten hinsichtlich eines Verstoßes gegen § 9 Abs. 1 StVO angenommen. Zudem stehe im Ergebnis der Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen fest, dass der Unfall für den Geschädigten G… unvermeidbar gewesen sei. Auch eine unklare Verkehrslage habe für den Geschädigten G… nicht vorgelegen, insbesondere habe dieser nicht sehen können, ob der Beklagte den Blinker gesetzt habe oder nicht. Im Ergebnis hafte der Beklagte daher für die Unfallschäden zu 100 %. Dementsprechend sei die Klage nunmehr zu erweitern.
Der Senat hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des Zeugen R… B… . Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 11.11.2019 (Bl. 367 ff GA) verwiesen. Ferner hat der Senat die Akten der Staatsanwaltschaft Potsdam zum Az. 4101 Js 38071/13 beigezogen.
II.
1. Die Berufung des Beklagten ist zulässig, insbesondere ist das Rechtsmittel form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 511, 513, 517, 519, 520 ZPO. Der Beklagte stützt sein Rechtsmittel unter anderen darauf, das Landgericht habe zu Unrecht einen Verstoß des Geschädigten G… gegen ein an der Unfallstelle geltendes Überholverbot nicht berücksichtigt, wobei dieser Verstoß zur alleinigen Haftung des Geschädigten G… für die Unfallschäden führe. Der Beklagte macht damit einen Rechtsfehler geltend, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann, §§ 513, 546 ZPO.
Wie der Senat bereits in der Terminsverfügung ausgeführt hat, ist auch die von der Klägerin mit Schriftsatz vom 10.11.2017 eingelegte Anschlussberufung zulässig, insbesondere ist sie innerhalb der der Klägerin zur Erwiderung auf die Berufung gesetzten Frist eingegangen und in der Anschlussschrift begründet worden, § 524 ZPO. Nicht erforderlich ist eine ausdrückliche Erklärung, es werde Anschlussberufung eingelegt, vielmehr genügt es, dass der Berufungsbeklagte seinerseits einen Antrag auf Abänderung des angefochtenen Urteils stellt (BGH NJW 1954, S. 266; Heßler in Zöller, ZPO, Kommentar, 32. Aufl., § 524, Rn. 6). Dies ist hier durch den genannten Schriftsatz erfolgt. Schließlich ist auch die mit der Anschlussberufung erfolgte Klageerweiterung gemäß §§ 525, 264 Nr. 2, 263 ZPO zulässig. Die Vorschrift des § 533 ZPO, deren Voraussetzungen zudem erfüllt wären, findet auf den Fall des § 264 Nr. 2 ZPO bereits keine Anwendung (BGH MDR 2016, S. 1348; MDR 2010, S. 1011, NJW 2004, S. 2152).
2. In der Sache haben sowohl das Rechtsmittel des Beklagten als auch die Anschlussberufung der Klägerin keinen Erfolg. Ein Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG i. V. m. § 116 Abs. 1 SGB X bzw. aus § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB, § 9 Abs. 1 StVO i. V. m. § 116 Abs. 1 SGB X besteht nur unter Berücksichtigung einer Mithaftungsquote der Klägerin von 25 %, so dass weder der vom Landgericht zugesprochene Zahlungsanspruch von 47.527,02 € noch der zuerkannte Feststellungsantrag, die beide auf einer entsprechenden Haftungsquote beruhen, abzuändern sind.
Wie der Senat ebenfalls bereits in der Terminsverfügung ausgeführt hat, hat keine Partei nachgewiesen, dass der Unfall vom 30.07.2013 für ihre Seite ein unabwendbares Ereignis darstellte und damit zur alleinigen Haftung der Gegenseite geführt hätte. Unabwendbar im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG ist ein Ereignis, das durch die äußerste mögliche Sorgfalt eines Idealfahrers nicht abgewendet werden kann, wobei ein schuldhaftes Fehlverhalten ein unabwendbares Ereignis ausschließt und darlegungs- und beweisbelastet für die Unabwendbarkeit des Unfalles derjenige ist, der sich entlasten will (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl., § 17 StVG, Rn. 22 f m. w. N.). Vorliegend hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass ein idealer Fahrer an der Stelle des Zeugen G… nicht bereits vor Durchführung des Überholvorganges bemerkt hätte, dass sich vor dem Fahrzeug der Eheleute W… noch das Fahrzeug des Beklagten befand, und im Hinblick auf die vom Zeugen C… W… geschilderte Verringerung der Geschwindigkeit das Überholmanöver unterlassen bzw. abgebrochen hätte. Ebenso hat der Beklagte nicht bewiesen, dass ein idealer Fahrer an seiner Stelle nicht den bereits ausgescherten Motorradfahrer bemerkt und daraufhin das Abbiegemanöver unterlassen hätte, vielmehr steht insoweit ein Verkehrsverstoß des Beklagten zur Überzeugung des Senats fest (hierzu sogleich).
Bei der danach durchzuführende Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Dabei sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände einzustellen (vgl. BGH NJW 2007, S. 506; KG NZV 1999, S. 512; NZV 2003, S. 291; Hentschel/König/Dauer, a. a. O., § 17 StVG, Rn. 5 m. w. N.). Jeder Halter hat insoweit die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (BGH NZV 1996, S. 231).
Zutreffend hat das Landgericht einen Verstoß des Beklagten gegen § 9 Abs. 1 StVO berücksichtigt, weil er dem Erfordernis, vor dem Abbiegen eine doppelte Rückschau zu halten, nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist. Dabei spricht der Beweis des ersten Anscheins grundsätzlich für eine schuldhafte Unfallverursachung durch den Linksabbieger durch das Außerachtlassen der in § 9 Abs. 1 StVO normierten Pflichten bei einer Kollision mit dem rückwärtigen Verkehr (KG NZV 2005, S. 413; OLG München NJW 2015, S. 1892; OLG Düsseldorf, Urteil vom 06.05.2014, Az. I-1 U 32/13; veröffentlicht in juris; OLG Bremen MDR 2010, S. 26; Hentschel/König/Dauer, a. a. O., § 9 StVO, Rn. 55). Dahinstehen kann, ob vorliegend der Anscheinsbeweis im Hinblick auf dem Umstand, dass der Zeuge G… zwei Fahrzeuge in einem Zug überholt hat, keine Anwendung findet, denn im Ergebnis der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme steht aufgrund der überzeugenden Darlegungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dipl.-Ing. We… in seinem Gutachten vom 10.10.2016 sowie im Rahmen von dessen Erläuterung im Termin am 11.05.2017 zur Überzeugung des Senats fest, dass der Beklagte den sich bereits im Überholvorgang befindenden Zeugen G… jedenfalls bei der gebotenen zweiten Rückschau unmittelbar vor Durchführung des Abbiegevorgangs und dem Einfahren in die Gegenfahrbahn hätte sehen müssen. Der Sachverständige hat nachvollziehbar dargelegt, dass er zu Gunsten des Beklagten bereits ein vergleichsweise spätes Ausscheren des Motorrades angenommen hat, gleichwohl aus der Anstoßkonstellation und den festgestellten Geschwindigkeiten der Fahrzeuge abzuleiten sei, dass sich der Zeuge G… bereits in dem Moment, in dem der Beklagte die zweite Rückschau hätte vornehmen müssen, auf der Gegenfahrbahn befand und daher vom Beklagten hätte gesehen werden müssen. Durchgreifende Einwendungen gegen die Feststellungen des Sachverständigen erhebt der Beklagte dabei nicht.
Ein Verkehrsverstoß des Zeugen G… steht demgegenüber auch im Ergebnis der vom Senat durchgeführten ergänzenden Beweisaufnahme nicht fest. Ein Verstoß des Zeugen gegen § 5 Abs. 3 Nr. 2 StVO ist nicht bewiesen. Entgegen der Ansicht des Beklagten hat die Klägerin die Aufstellung des Verkehrszeichens 276 (Überholverbot) vor der Unfallstelle und damit eine Verletzung des § 5 Abs. 3 Nr. 2 StVO durch den Zeugen G… nicht unstreitig gestellt. Die Klägerin hat vielmehr bereits in der Klageschrift ausdrücklich das Bestehen eines Überholverbotes an der Kollisionsstelle im Unfallzeitpunkt bestritten. Die Bekundungen des Zeugen B… im Rahmen seiner Vernehmung durch den Senat sind nicht hinreichend, eine Überzeugung dahingehend zu begründen, dass im Unfallzeitpunkt tatsächlich das Verkehrszeichen 276 vor der Unfallstelle aufgestellt gewesen ist. Der Zeuge konnte aus eigener Erinnerung nicht sicher angeben, ob am Unfalltage im Bereich der Unfallstelle ein Überholverbotsschild vorhanden gewesen ist. Der Zeuge war sich nicht einmal sicher, ob an der Unfallstelle überhaupt ein Überholverbot angeordnet gewesen ist, auch wenn er dies durchaus annahm. Weiter konnte der Zeuge letztlich nicht ausschließen, dass es während des Zeitraums der Bauarbeiten an dem Fahrradweg, bei denen er als Bauleiter tätig gewesen ist, auch zum Diebstahl von Verkehrsschildern gekommen ist. Der Senat verkennt dabei nicht, dass der Zeuge durchaus bemüht war, sich die vergleichsweise lang zurückliegenden Vorgänge sich in Erinnerung zu rufen. Auch hat der Zeuge eine plausible Erklärung dafür abgegeben, dass vor der Unfallstelle am Unfalltage auch ein Überholverbotsschild vorhanden gewesen ist. So hat er darauf verwiesen, dass nach seiner Kenntnis der von seinem Unternehmen beauftragte Subunternehmer den Verlust von Schildern durch Diebstahl nicht angezeigt hat, was indes bei Diebstählen zu erwarten gewesen wäre. Auch hat der Zeuge auf das von ihm gefertigte Schreiben der … Brandenburg GmbH vom 18.12.2013 sowie ein weiteres von ihm am 29.01.2016 verfasstes Schreiben verwiesen, dass er zu den Akten gereicht hat. Auch diese Schreiben sprechen dafür, dass ein Überholverbotsschild am fraglichen Tag vorhanden gewesen ist. Zugleich hat der Zeuge eingeräumt, es sei nicht seine Aufgabe gewesen, die Beschilderung zu kontrollieren. Er sei lediglich tätig geworden, wenn ihm aufgefallen sei, dass Schilder fehlten oder umgestoßen waren, wobei er Vandalismusschäden auch sicher erinnerte. Auch konnte der Zeuge nicht mehr angeben, ob er die von ihm gefertigten Schreiben auf der Grundlage der tatsächlichen Beschilderung oder lediglich aufgrund der verkehrsrechtlichen Anordnung erstellt hat, die die Anordnung eines Überholverbotes vorsah. Schon danach ist nicht auszuschließen, dass entgegen der Annahme des Zeugen am Unfalltag ein Überholverbotsschild nicht vorhanden gewesen ist. Zumal dem Zeugen die Problematik des Überholverbotes erst aufgrund der entsprechenden Nachfrage der Polizei bekannt geworden ist, auf die er das Schreiben vom 18.12.2013 verfasste, also rund viereinhalb Monate nach dem Unfall. Auch vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ausgeschlossen, dass das Überholverbotsschild am Unfalltage nicht vorhanden gewesen ist. Ebenso lässt sich nicht ausschließen, dass das ein Mitarbeiter des für die Beschilderung verantwortlichen Unternehmens ein einzelnes gestohlenes Schild ersetzt hat, ohne dass diesbezüglich eine Verlustanzeige gefertigt und weitergeleitet worden ist. Diesem Ergebnis steht letztlich auch nicht die Befestigung der Schilder im Erdreich entgegen, da nicht auszuschließen ist, dass das Schild vom Befestigungspfahl entfernt worden ist. Auch der vom Beklagten vorgelegte und nach seinen Angaben von der Firma … Baustellensicherung stammende Kontrollbericht betreffend die Überprüfung der Verkehrszeichen im Baustellenbereich auf Schäden rechtfertigt die Annahme nicht, dass am Unfalltage ein Überholverbotsschild an der Unfallstelle vorhanden gewesen ist. Wie wiederum bereits in der Terminsverfügung ausgeführt kommt der Übersicht kein gesteigerter Beweiswert zu, da sich ihr bereits nicht entnehmen lässt, welche Verkehrszeichen im einzelnen überprüft worden sind. Zugleich ergibt sich aus Sicht des Senats aus der polizeilichen Unfallanzeige – in der die Beschilderung an der Unfallstelle detailliert dargestellt, ein Überholverbotszeichen jedoch nicht erwähnt wird – durchaus ein Indiz für das Fehlen eines solchen Schildes. Ebenso spricht die Aussage des Zeugen G… für das Fehlen eines Überholverbotsschildes, wobei der Senat die Angaben des Zeugen so versteht, dass er ein Überholverbot nicht wahrgenommen hat. Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge eine eigene Wahrnehmung dazu hat, dass das Schild – wie von ihm angegeben – tatsächlich erst später aufgestellt wurde, sind nämlich nicht ersichtlich. Unergiebig war die Aussage des Zeugen D…, der gerade nicht bestätigt hat, dass im Unfallzeitpunkt die Schilder entsprechend der verkehrsrechtlichen Anordnung aufgestellt gewesen sind. Ebenso konnten die Eheleute W… zur Aufstellung des Überholverbotsschildes keine Angaben machen. Schließlich fehlt es für die vom Beklagten angeregte Beiziehung der vom Zeugen Be… D… im Rahmen seiner Vernehmung durch das Landgericht erwähnten Kontrollberichte bereits an einer rechtlichen Grundlage. Nach allem vermag der Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit im Sinne von § 286 ZPO festzustellen, dass an der Unfallstelle ein Überholverbot mittels des Verkehrszeichens 276 am Unfalltag angeordnet gewesen ist.
Zutreffend hat das Landgericht ferner einen Verstoß des Zeugen G… gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO verneint. Allein die Verringerung der Geschwindigkeit eines vorausfahrenden Fahrzeuges führt nicht zum Vorliegen einer unklaren Verkehrslage, wenn keine weiteren Umstände hinzutreten, die auf ein unmittelbar bevorstehendes Abbiegen des vorausfahrenden Fahrzeuges nach links hindeuten (KG MDR 2011, S. 97; OLG München, Urteil vom 09.11.2012, Az. 10 U 1860/12, veröffentlicht in beck-online; OLG Saarbrücken MDR 2015, S. 647; Hentschel/König/Dauer, a. a. O., § 5 StVO Rn. 35 m.w.N.). Dies gilt selbst dann, wenn das vorausfahrende Fahrzeug sich bereits zur Straßenmitte hin eingeordnet hat. Solche Umstände hat der hierfür darlegungs- und beweisbelastete Beklagte nicht bewiesen. Es steht insbesondere nicht fest, dass der Beklagte den linken Fahrtrichtungsanzeiger so rechtzeitig betätigt hat, dass sich der Zeuge G… auf das Abbiegen hätte einstellen können. Vielmehr hat der Zeuge G… angegeben, er habe den vom Beklagten geführten Pkw erst nach dem Ausscheren wahrgenommen, wobei der Pkw in diesem Moment geblinkt habe. Auch aus den Angaben des Zeugen C… W… ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer unklaren Verkehrslage, insbesondere steht nicht fest, dass die vor dem Zeugen G… fahrenden Pkw vor dem Beginn von dessen Überholmanöver abgebremst haben, weshalb aus Sicht des Zeugen G… Zweifel darüber hätten entstehen können, was die Vorausfahrenden jetzt sogleich tun würden. Der Zeuge C… W… hat keine Angaben dazu machen können, dass der vor ihm fahrende Beklagte oder er selbst abgebremst haben, bevor der Beklagte nach links abgebogen ist.
Im Ergebnis der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge hält der Senat die auch von der Klägerin erstinstanzlich angenommene Haftungsverteilung von 25 % zu 75 % zulasten des Beklagten weiterhin für angemessen. Zwar birgt das Abbiegemanöver des Beklagten nach links ein hohes Gefahrenpotenzial, weshalb der Linksabbieger besondere Verpflichtungen hat, die der Beklagte hier nicht erfüllt hat. Demgegenüber ist aber auch die Betriebsgefahr des vom Zeugen G… geführten Motorrades durch die besondere Gefährlichkeit des gleichzeitigen Überholens von mehr als einem Fahrzeug erheblich gesteigert (vgl. hierzu BGH MDR 1987, S. 223; OLG Stuttgart VRS 121, S. 16; OLG Rostock MDR 2007, S. 1014). Dies rechtfertigt es in der konkreten Situation nicht, die Betriebsgefahr des Motorrades gegenüber dem Verkehrsverstoß des Beklagten vollständig zurücktreten zu lassen oder auch nur auf die regelmäßig mit 20 % zu bewertende einfache Betriebsgefahr zurückzustufen, vielmehr erscheint eine (geringfügige) Erhöhung der einfachen Betriebsgefahr im konkreten Einzelfall vor dem Hintergrund des vom Zeugen G… durchgeführten Fahrmanövers gerechtfertigt.
Der vom Gericht zuerkannte Zinsanspruch beruht auf §§ 288 Abs. 1, 286 BGB bzw. hinsichtlich der Klageerweiterung auf §§ 291, 288 Abs. 1 BGB. Der Beklagte befindet sich aufgrund seiner ernsthaften und endgültigen Leistungsverweigerung im Schreiben vom 20.08.2014 jedenfalls ab diesem Tage in Verzug.
3. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 Satz 1, Satz 2 ZPO.
Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 Abs. 2 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf bis zu 90.000,00 € festgesetzt, §§ 47 Abs. 1, 48 Abs. 1 S. 1 GKG, § 3 ZPO (Berufung Beklagter: 63.169,36 € – Zahlungsantrag: 47.527,02 €, Feststellungsantrag: 15.852,34 €; Anschlussberufung Klägerin: 21.123,12 € – Zahlungsantrag: 15.842,34 €, Feststellungsantrag: 5.280,78 €).
Wert der Beschwer für den Beklagten: 63.369,36 €.
Wert der Beschwer für die Klägerin: 21.123,12 €.