OLG Celle – Az.: 14 U 87/20 – Urteil vom 16.12.2020
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 15. April 2020 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden <5 O 248/18> teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 4.825,93 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 25. September 2018 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 40 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 60 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 8.043,22 Euro festgesetzt.
GRÜNDE
(abgekürzt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO)
I.
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache nur teilweise Erfolg.
1. Die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche folgen dem Grunde nach aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 1, Abs. 3 StVG, 253, 823 Abs. 1 BGB, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 VVG. Sie bestehen jedoch nur auf Grundlage einer Haftungsquote von 70 : 30 zu Lasten der Klägerin. Im Einzelnen gilt Folgendes:
a) Zunächst ist festzuhalten, dass entgegen der Ansicht der Klägerin die Entscheidung des Landgerichts über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG durch den Senat vollumfänglich überprüfbar ist. Soweit die Klägerin zur Begründung ihrer Auffassung auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 26. Januar 2016 – VI ZR 179/15 – verweist, bleibt dies ohne Erfolg. Denn der Bundesgerichtshof hat darin lediglich ausgeführt, die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG – wie im Rahmen des § 254 BGB – sei Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren [Unterstreichung durch den Senat] nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (BGH, aaO, Rn. 10, juris). Die Klägerin zitiert insofern falsch, wenn sie ausführt, die Haftungsverteilung sei „… im Rechtsmittelverfahren nur darauf zu überprüfen…“ (vgl. Berufungserwiderung, dort S. 2). Das Berufungsverfahren ist – anders als das Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof – eine zweite Tatsacheninstanz. Die Entscheidung des Landgerichts über die Haftungsverteilung ist daher für den erkennenden Senat vollumfänglich überprüfbar.
b) Die erstinstanzlich zunächst streitige Frage der Aktivlegitimation der Klägerin greifen die Beklagten im Berufungsverfahren nicht auf. Hintergrund ist das Vorbringen der Klägerin in der Replik (Bl. 82ff. d.A.), auf dem die entsprechenden Feststellungen des Landgerichts im angefochtenen Urteil (vgl. LGU S. 3) fußen. Von der Aktivlegitimation der Klägerin ist danach im Berufungsverfahren auszugehen.
c) Weder die Beklagten mit ihrer Berufung noch die Klägerin im Rahmen ihrer Berufungserwiderung greifen das landgerichtliche Urteil insoweit an, als das Landgericht ohne Weiteres angenommen hat, der streitgegenständliche Unfall sei für keine Seite unabwendbar i. S. v. § 17 Abs. 3 StVG gewesen. Das Landgericht ist unmittelbar in die Haftungsabwägung eingetreten (vgl. LGU S. 6), ohne sich zur Frage der Unabwendbarkeit zu verhalten. Im Ergebnis ist gegen die damit verbundene Wertung des Landgerichts allerdings nichts zu erinnern. Denn dass sich der Fahrer der Klägerin und der Beklagte zu 1) nicht wie Idealfahrer im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage der Unabwendbarkeit nach § 17 Abs. 3 StVG (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 10. März 1998 – VI ZR 30/97 –, Rn. 17 mwN, juris) verhalten haben, liegt angesichts des Unfallhergangs unter Berücksichtigung der sich aus § 4 Abs. 1 S. 1 und S. 2 StVO ergebenden Vorgaben auf der Hand.
d) Im Rahmen der deshalb nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 3 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Zunächst ist das Gewicht des jeweiligen Verursachungsbeitrages der Kfz-Halter bzw. -Führer zu bestimmen, wobei zum Nachteil der einen oder anderen Seite nur feststehende, d. h. unstreitige oder bewiesene Umstände berücksichtigt werden dürfen, die sich auch nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben (Heß in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 25. Auflage 2018, § 17 StVG Rn. 12). In einem zweiten Schritt sind die beiden Verursachungsanteile gegeneinander abzuwägen (Senat, Urteil vom 22. Januar 2020 – 14 U 150/19 –, Rn. 66 mwN, juris).
aa) Klägerseite
Gegen den Fahrer der Klägerin als Auffahrendem spricht ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung. Dieser Anscheinsbeweis ist nicht erschüttert, der gegenteiligen Wertung des Landgerichts kann nicht gefolgt werden.
(1) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Auffahrunfällen, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen kann, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO); denn der Kraftfahrer ist verpflichtet, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (u.a. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16 – Rn. 10 mwN, juris).
(2) Der Auffahrunfall reicht als solcher allerdings als Grundlage eines Anscheinsbeweises dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die – wie etwa ein vor dem Auffahren vorgenommener Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs – als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen (BGH, aaO, Rn. 11 mwN, juris). Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat; ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (BGH, aaO, juris). Steht allerdings nicht fest, ob über das – für sich gesehen typische – Kerngeschehen hinaus Umstände vorliegen, die, sollten sie gegeben sein, der Annahme der Typizität des Geschehens entgegenstünden, so steht der Anwendung des Anscheinsbeweises nichts entgegen; denn in diesem Fall bleibt dem Tatrichter als Grundlage allein das typische Kerngeschehen, das ohne besondere Umstände als Basis für den Anscheinsbeweis ausreicht (BGH, aaO, juris). Ist also ein Sachverhalt unstreitig, zugestanden oder positiv festgestellt, der die für die Annahme eines Anscheinsbeweises erforderliche Typizität aufweist, so obliegt es demjenigen, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet werden soll, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass weitere Umstände vorliegen, die dem feststehenden Sachverhalt die Typizität wieder nehmen; er hat den Anscheinsbeweis zu erschüttern (BGH, aaO mwN, juris).
(3) Ein Anscheinsbeweis scheidet im vorliegenden Fall nicht bereits deshalb aus, weil hier auf das Klägerfahrzeug auch noch ein weiteres Fahrzeug aufgefahren ist. Es entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung, dass bei Kettenauffahrunfällen jedenfalls hinsichtlich der Verursachung des Frontschadens an dem Fahrzeug, auf das das Fahrzeug des Hintermanns aufgefahren ist, der für ein Verschulden des Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis in der Regel nicht anwendbar ist, weil regelmäßig gerade kein ausreichend typischer Geschehensablauf feststellbar ist (vgl. OLG München, Urteil vom 12. Mai 2017 – 10 U 748/16 –, Rn. 6 mit Verweis auf OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.06.2006, Az.: I-1 U 206/05, und OLG Hamm, Urteil vom 06.02.2014, Az.: 6 U 101/13, NJW 2014, 3790, juris). Im vorliegenden Fall steht jedoch außer Streit, dass das Klägerfahrzeug zunächst auf das abgebremste Beklagtenfahrzeug auffuhr und erst anschließend die Zeugin M. mit ihrem Pkw auf das Klägerfahrzeug auffuhr. Das Geschehen betreffend die Kollision zwischen dem Klägerfahrzeug und dem Beklagtenfahrzeug unterscheidet sich daher nicht vom „Normalfall“, bei dem lediglich zwei Fahrzeuge am Auffahrunfall beteiligt sind. Im Verhältnis der Parteien des Rechtsstreits bleibt es daher dabei, dass gegen den Fahrer des Klägerfahrzeugs ein erster Anschein dafür spricht, dass er den Unfall schuldhaft verursacht.
(4) Die Klägerin will offenbar ohnehin nur geltend machen, dass eine Alleinschuld bzw. ein Anscheinsbeweis hierfür erschüttert sei. Das ergibt insofern Sinn, als sie bei ihrer Inanspruchnahme der Beklagten selbst nur von einer Haftung der Beklagten im Umfang von 50 % ausgeht, also einen eigenen, hälftigen Haftungsanteil einräumt. Ob zwischen Anscheinsbeweisen für einen schuldhaften Verkehrsverstoß einerseits und für eine Alleinschuld des Auffahrenden andererseits zu differenzieren ist, wie es die Klägerin unter Verweis auf eine Entscheidung des OLG Karlsruhe geltend macht (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 28.04.2017 – 9 U 189/15, juris-Rn. 24), erscheint allerdings zweifelhaft. Denn dies vermengt Fragen der Feststellung von Verursachungsbeiträgen mit der erst im Anschluss hieran vorzunehmenden Abwägung der Verursachungsbeiträge (s.o.). Allerdings verweist das OLG Karlsruhe in dem in Bezug genommenen Urteil auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1969, zu der als Leitsatz Folgendes ausgeführt ist: „Ein Auffahrunfall, bei dem kein Anhalt für ein Fehlverhalten des Vorausfahrenden besteht, begründet den Beweis des ersten Anscheins dafür, daß der Unfall allein auf der Unachtsamkeit des Nachfolgenden beruht. (…)“ (vgl. BGH, VersR 1969, 859). Danach hat allerdings der Bundesgerichtshof hinsichtlich einer Alleinschuld des Auffahrenden eingeschränkt, dass kein Anhalt für ein Fehlverhalten des Vorausfahrenden bestehen dürfe. Zudem geht es bei §§ 7, 17 StVG im Ansatz um die Haftung aus Betriebsgefahr, die auf einer Halterseite erst im Rahmen der Abwägung hinter einem überragenden Verschulden der anderen Seite vollständig zurücktreten kann, es aber nicht muss.
Letztlich kann die Frage jedenfalls deshalb offenbleiben, weil vorliegend gerade ein Anhalt für ein eigenes Fehlverhalten auf Beklagtenseite besteht, nämlich ein nach den eigenen Angaben des Beklagten zu 1) unnötig starkes Abbremsen (dazu s.u. lit. bb)). Im vorliegenden Zusammenhang geht es jedenfalls nur um die Frage, ob den Fahrer des Klägerfahrzeugs ein Schuldvorwurf trifft. Hierfür streitet der Anscheinsbeweis, wie ausgeführt. Ob daneben auch ein Verschulden auf Beklagtenseite vorliegt und / oder die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter das Verschulden auf Klägerseite zurücktritt, ist erst in einem zweiten Schritt im Rahmen der Abwägung zu entscheiden (s.o.).
(5) Das Landgericht verkennt im Rahmen seiner Erwägungen zur Frage, ob der Anscheinsbeweis erschüttert ist (LGU S. 6, vorletzter Absatz) Regel- und Ausnahmefall: Der Hintermann muss grundsätzlich mit einem plötzlichen scharfen Bremsen rechnen (vgl. u.a. MüKoStVR-Bender, § 4 StVO, Rn. 20). Auf Autobahnen muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Kraftfahrzeug nach StVO § 4 Abs. 1 S 1 in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn das vorausfahrende Fahrzeug plötzlich gebremst wird (BGH, Urteil vom 09. Dezember 1986 – VI ZR 138/85 –, juris). Soweit das Landgericht hiergegen unter Bezugnahme auf MüKoStVR-Bender, § 4 StVO, Rn. 22f., ausführt, ohne entsprechende Anhaltspunkte brauche der Nachfolgende nicht mit einem plötzlichen, sondern nur mit einem allmählichen, verkehrsgerechten Bremsen des Vordermannes zu rechnen, hat es nicht beachtet, dass die besagte Fundstelle auf die Entscheidung des OLG Frankfurt, Urteil vom 02. März 2006 – 3 U 220/05 –, verweist, der jedoch eine atypische Konstellation zugrunde lag (vgl. OLG Frankfurt, aaO, juris-Rn. 2 a.E.: „(…) Vor der LZA standen zunächst der Kläger und – dahinter – die Beklagte zu 1) mit ihren Fahrzeugen, weil das Signal rot angezeigt wurde; hierbei stand der Pkw des Klägers als erstes wartendes Fahrzeug unmittelbar vor der dort markierten Haltelinie. Nachdem die LZA für den Kläger und die Beklagte zu 1) auf grün umschaltete, fuhren sowohl der Kläger als auch die Beklagte zu 1) an. Noch vor Erreichen der hier nach der Unfallskizze rund 11 bis 12,50 m hinter der erwähnten Haltelinie in einem Winkel von etwa 35° zu überquerenden Straßenbahnschienen bremste der Kläger sein Fahrzeug wieder ab und die Beklagte zu 1) fuhr auf.“). Das OLG Frankfurt hat in jenem Fall die Anwendung des Anscheinsbeweises mangels Typizität abgelehnt. So liegt es hier indes nicht. Vielmehr ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, weshalb hier nicht ein typischer Auffahrunfall vorliegen soll. Vielmehr sprechen gerade die Angaben des Zeugen B., des Fahrers des Klägerfahrzeugs, im Rahmen seiner Vernehmung für die Typizität des Geschehens. Denn er hat zu den Umständen selbst bekundet, dass „relativ dichter Verkehr“ geherrscht habe, vor ihm „die ganze Zeit die Bremslichter“ leuchteten und er mit einer Geschwindigkeit von ca. 60 km/h gefahren sei (vgl. Bl. 109 d.A.). Das korrespondiert auch mit den Angaben des Beklagten zu 1) jedenfalls insoweit, als auch dieser bekundet hatte, Bremslichter vor sich gesehen und deshalb gebremst zu haben. Unabhängig von den konkreten Verkehrsverhältnissen (Stau oder stockender Verkehr) und der Intensität des Abbremsens des Beklagtenfahrzeugs (stärkeres Bremsen oder Vollbremsung) stellt sich die Situation jedenfalls so dar, dass keine Umstände vorliegen, die gegen die bei Auffahrunfällen gegebene Typizität sprechen.
(6) Der Anscheinsbeweis ist auch nicht im Übrigen nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme als erschüttert anzusehen. Der Beklagte zu 1) und die Zeugen haben keine besonderen Umstände geschildert, die zur Erschütterung des Anscheinsbeweises führen könnten. Die Schilderung einer Vollbremsung bzw. unnötig starken Bremsung genügt nicht. Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann zwar dann erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges „ruckartig“ – etwa infolge einer Kollision – zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 1986 – VI ZR 138/85 –, juris). Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt, denn ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren (vgl. BGH, Urteil vom 16. Januar 2007 – VI ZR 248/05 –, Rn. 6, juris). So liegt es hier, jedenfalls was die Frage anbelangt, ob der Anscheinsbeweis als erschüttert angesehen werden kann. Auch war es unstreitig so, dass das Beklagtenfahrzeug auf derselben Fahrspur wie das Klägerfahrzeug fuhr und nicht kurz vor der Kollision einen Spurwechsel vorgenommen hatte, was gegen die bei Auffahrunfällen gegebene Typizität sprechen könnte (s.o. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16 –, Rn. 11, juris). Wie ausgeführt (s.o. Ziff. (5)), herrschte zum Unfallzeitpunkt zumindest stockender Verkehr, so dass das Abbremsen durch den Beklagten zu 1), auch wenn es unnötig stark gewesen ist, nicht gänzlich atypisch und unerwartbar war.
(7) Im Ergebnis bleibt es deshalb dabei, dass gegen den Fahrer des Klägerfahrzeugs ein Anscheinsbeweis dafür spricht, die Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug schuldhaft verursacht zu haben. Es ist davon auszugehen, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO).
bb) Beklagtenseite
Das Landgericht hat einen Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO angenommen. Dies erscheint auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens im Ergebnis vertretbar.
(1) Gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 StVO darf der Vorausfahrende nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen. Starkes Bremsen ist gegeben, wenn es das Maß eines normalen Bremsvorgangs deutlich übersteigt (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 45. Auflage, § 4 Rn. 14 mwN). Soweit das Landgericht im Rahmen der Prüfung des § 4 Abs. 1 S. 2 StVO zudem ein ‚plötzliches Bremsen‘ für erforderlich erachtet, verkennt es die Tatbestandsvoraussetzungen. § 4 Abs. 1 S. 2 StVO besagt nichts dazu, ob das Bremsen ‚plötzlich‘ sein darf oder nicht. Dieser Begriff findet sich nur in § 4 Abs. 1 S. 1 StVO, der jedoch kein Gebot an den Vorausfahrenden enthält, sondern sich an den Nachfolgenden richtet und verlangt, dass der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein muss, dass auch dann hinter vorausfahrenden Fahrzeug gehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. § 4 Abs. 1 S. 2 StVO gebietet zudem, dass nur bei Vorliegen eines zwingenden Grundes stark gebremst werden darf. Ein zwingender Grund zum Bremsen besteht, wenn andernfalls andere oder der Bremsende gefährdet oder geschädigt werden könnten (Hentschel/König/Dauer, aaO mwN).
(2) Ausgehend davon hat das Landgericht einen Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO zu Lasten der Beklagten im Ergebnis zu Recht bejaht. Es hat insbesondere zu Recht darauf abgestellt, dass der Beklagte zu 1) im Rahmen seiner persönlichen Anhörung selbst erklärt hat, stärker gebremst zu haben, als es eigentlich erforderlich gewesen wäre, wohl deshalb, weil er das Fahrzeug nicht so gut gekannt habe; der Verkehr vor ihm habe sich nicht gestaut. Dies korrespondiert zum einen mit den Angaben des Zeugen B., der die Bremsung des Beklagten zu 1) als Vollbremsung gewertet hat, zum anderen mit den Angaben der Zeugen Bü. und M., die übereinstimmend bekundet hatten, der Beklagte zu 1) habe nach dem Unfall erklärt, er sei zuvor noch nie mit einem Automatik-Fahrzeug gefahren.
Dies genügt für die Annahme, dass der Beklagte zu 1) ohne zwingenden Grund stark gebremst und somit gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO verstoßen hat.
(3) Das Berufungsvorbringen führt zu keiner anderen Bewertung. In erster Linie betreffen die Ausführungen unter Ziff. II der Berufungsbegründung ohnehin nur die Frage, ob der gegen die Klägerin sprechende Anscheinsbeweis erschüttert ist oder nicht. Soweit die Beklagten geltend machen, gegen die vom Zeugen B. bekundete Vollbremsung spreche der Umstand, dass dieser von einem durchgehenden Leuchten der Bremslichter gesprochen habe, während das Beklagtenfahrzeug über blinkende Leuchten im Falle einer Gefahrenbremsung verfüge, verfängt dies im Ergebnis nicht. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob der Aussage des Zeugen B. mit Gewissheit entnommen werden kann, dass er nur durchgehend leuchtende Bremslichter am Beklagtenfahrzeug gesehen haben will. Ungeklärt ist allerdings, ob das Beklagtenfahrzeug überhaupt über die vorgetragene Einrichtung der Bremslichter verfügte. Eine Aufklärung ist jedoch nicht erforderlich, und ebenso wenig muss feststehen, dass der Beklagte zu 1) tatsächlich eine Vollbremsung (Gefahrenbremsung) vornahm. Denn § 4 Abs. 1 S. 2 StVO verlangt lediglich ein starkes Bremsen, was weniger ist als eine Gefahrenbremsung und vielmehr bedeutet, dass, wie ausgeführt, lediglich ein das Maß eines normalen Bremsvorgangs deutlich übersteigendes Bremsen genügt. Dies aber ist aufgrund der Angaben des Beklagten zu 1) und des Zeugen B. als erwiesen anzusehen (s.o.). Danach helfen den Beklagten auch die Ausführungen zum Ergebnis der Begutachtung nicht weiter, weil es, wie dargelegt, im Rahmen von § 4 Abs. 1 S. 2 StVO nicht darauf ankommt, ob der Beklagte zu 1) eine Gefahrenbremsung durchgeführt hat oder nicht. Wie die Beklagten zudem selbst anmerken, hat der vom Landgericht hinzugezogene Sachverständige insbesondere mangels Bremsspuren wesentliche Umstände nicht klären können, vor allem die Abstände vor der Kollision, das Bremsverhalten und die Kollisionsgeschwindigkeiten. Weitere bzw. andere Feststellungen lassen sich danach nicht treffen.
cc) Bei Abwägung aller Verursachungs- und Verschuldensbeiträge kommt eine hälftige Haftung der Beklagten nicht in Betracht. Der Verkehrsverstoß auf Klägerseite rechtfertigt hier eine überwiegende Haftung der Klägerin. Dabei fällt zu Lasten der Klägerin erschwerend ins Gewicht, dass nach den Feststellungen des Sachverständigen W. die Geschwindigkeitsdifferenz der Fahrzeuge bei der Kollision 40 km/h betrug, weshalb anzunehmen ist, dass der Fahrer des Klägerfahrzeugs besonders unaufmerksam, der Abstand viel zu gering oder die Geschwindigkeit des Klägerfahrzeugs deutlich unangepasst gewesen ist. Allerdings erscheint es nicht sachgerecht, die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter das Verschulden auf Klägerseite zurücktreten zu lassen, da der Beklagte zu 1) den Unfall, wie ausgeführt, schuldhaft mitverursacht hat. Die Betriebsgefahr eines Pkw begründet für sich genommen ohne Hinzutreten besonderer Umstände nach der ständigen Rechtsprechung des Senats einen Haftungsanteil von 20 % (vgl. etwa Senat, Urteil vom 22. Mai 2019 – 14 U 153/18 –, juris). Der hier zu berücksichtigende Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO rechtfertigt eine Erhöhung um 10 %, so dass sich der Haftungsanteil der Beklagten im Ergebnis auf 30 % beläuft. Die so gefundene Haftungsquote von 70 zu 30 zu Lasten der Klägerin ist angemessen. Das deutliche Überwiegen des Haftungsanteils der Klägerin entspricht den Verursachungsanteilen. Im Übrigen wird auch in Kommentarliteratur und Rechtsprechung vertreten, dass auch bei unverhofft starkem Bremsen des Vorausfahrenden ohne zwingenden Grund in der Regel der Haftungsanteil des Auffahrenden überwiegt (vgl. und näher Hentschel/König/Dauer, aaO, Rn. 33 mit Rechtsprechungsnachweisen). Soweit der Klägervertreter in der Berufungsverhandlung zur Begründung einer hälftigen Haftungsverteilung auf eine Entscheidung des OLG Hamm (Urteil vom 09.12.2013 – 6 U 54/13 –) verwiesen hat, verkennt er, dass der dort zugrundeliegende Unfall in Annäherung an eine Grünlicht anzeigende Lichtzeichenanlage geschah und sich zudem vor dem vorausfahrenden Unfallbeteiligten keine weiteren Fahrzeuge befanden (vgl. OLG Hamm, aaO, juris-Rn. 4). Diese Situation unterscheidet sich wesentlich von der hier zu beurteilenden.
2. Zur Schadenshöhe gilt danach Folgendes:
a) Den Ansatz der Klägerin vom Verhältnis des Frontschadens zum Gesamtschaden haben die Beklagten zu keinem Zeitpunkt angegriffen. Zwar lag mit dem Frontschaden, der nach den Feststellungen des Sachverständigen W. allein auf der Kollision zwischen Kläger- und Beklagtenfahrzeug beruht, bereits ein Totalschaden am Klägerfahrzeug vor, so dass sich vorliegend durchaus fragen ließe, ob ein Abzug im Hinblick auf den Heckschaden infolge der Kollision der Zeugin M. zu machen ist. Das braucht jedoch nicht entschieden zu werden, denn die Klägerin nimmt diesen Abzug selbst vor und macht gegenüber den Beklagten nur einen entsprechenden anteiligen Schaden geltend.
b) Nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Begutachtung hat es das Landgericht als erwiesen angesehen, dass das Schadensgutachten der Klägerin hinsichtlich der Reparaturkosten zutreffend ist und der Frontschaden allein auf die Kollision zwischen dem Kläger- und dem Beklagtenfahrzeug zurückzuführen sei. Dies haben die Beklagten nicht weiter angegriffen, die Berufungsbegründung verhält sich dazu nicht. Es ist auch sonst kein Grund ersichtlich, dass bzw. inwiefern die Beweiswürdigung des Landgerichts fehlerhaft sein könnte. Daher ist dies und sind dementsprechend die Beträge sowie der Anteil von 87,8 % auch im Berufungsverfahren zugrunde zu legen.
c) 87,8 % des Gesamtschadens ergeben 16.086,44 Euro (s. LGU S. 8f. und Klageschrift S. 4). Ausgehend von einer Haftungsquote von 70 : 30 zu Lasten der Klägerin kann diese von den Beklagten also 30 % ihres Schadens ersetzt verlangen, mithin 4.825,93 Euro. Insoweit verbleibt es bei der landgerichtlichen Entscheidung. Darüber hinaus besteht der geltend gemachte Anspruch nicht, so dass das landgerichtliche Urteil insoweit abzuändern war.
d) Der geltend gemachte Anspruch auf Prozesszinsen folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.
e) Die Höhe der berechtigten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten beläuft sich entsprechend der für die Klägerin gegenüber der erstinstanzlichen Entscheidung ungünstigeren Haftungsquote, ausgehend von einem Gegenstandswert von 4.825,93 Euro, auf 413,90 Euro (zur Berechnung vgl. Klagschrift S. 5). Insoweit verbleibt es bei der von der Klägerin begehrten Freistellung.
II.
Nach alledem war das angefochtene Urteil auf die Berufung der Beklagten teilweise abzuändern; im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Eine Auferlegung der Kosten für das erstinstanzlich eingeholte Sachverständigengutachten auf die Beklagten gemäß § 96 ZPO kam entgegen der Ansicht der Klägerin nicht in Betracht, weil die Begutachtung zur Klärung des streitigen Haftungsumfangs erforderlich war und das Ergebnis der Begutachtung Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsstreits hatte. Das Ergebnis der Begutachtung war im Übrigen auch nicht von vornherein voraussehbar. In einem solchen Fall kommt eine Kostentrennung nach § 96 ZPO nicht in Betracht (vgl. und näher Herget in: Zöller, ZPO, 33. Auflage, § 96 Rn. 1 mit Rechtsprechungsnachweisen).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. V. m. § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
IV.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und der Senat nicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes oder eines anderen Oberlandesgerichts abweicht, so dass auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern, § 543 ZPO.
V.
Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren beruht auf § 3 ZPO, § 47 Abs. 1 GKG.
Berichtigungsbeschluss vom 8. Januar 2021
Der Tenor des am 16. Dezember 2020 verkündeten Urteils des Senats wird wegen offensichtlicher Unrichtigkeit (§ 319 Abs. 1 ZPO) dahingehend berichtigt, dass der Tenor vor dem Satz „Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.“ wie folgt ergänzt wird:
Die Beklagten werden ferner als Gesamtschuldner verurteilt, die Klägerin von vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 413,90 Euro freizustellen.