LG Saarbrücken, Az: 13 S 122/12, Urteil vom 19.10.2012
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 13. Juni 2012 – 4 C 199/11 (04) – teilweise abgeändert, und die Beklagten werden unter Klageabweisung im Übrigen als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 557,46 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 6. April 2011 sowie 65,57 € vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz tragen die Klägerin zu 38 % und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 62 %. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 35 % und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 65 %.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird in dem in den Entscheidungsgründen dargelegten Umfang zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin macht Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 29. Dezember 2010 auf dem Parkplatz des … in … ereignete.
Sowohl die Klägerin als auch der Erstbeklagte, dessen Kraftfahrzeug bei der Zweitbeklagten haftpflichtversichert war, parkten mit ihren Fahrzeugen rückwärts aus einander gegenüberliegenden, schräg zur Fahrgasse angeordneten Parktaschen aus. Dabei kam es zum Unfall.
Die Klägerin hat ihren im Jahr 1998 zugelassenen Pkw durchgehend in einer BMW-Werkstatt pflegen und warten lassen. Sie macht auf der Grundlage des Kostenvoranschlags einer BMW-Werkstatt fiktive Reparaturkosten von netto 1.687,47 € abzüglich hierauf vorprozessual gezahlter 800,02 € sowie eine Unkostenpauschale von 25,00 € abzüglich hierauf gezahlter 12,50 € geltend.
Erstinstanzlich hat sie behauptet, sie habe nach dem Ausparken bereits in gerader Ausrichtung auf dem Fahrweg zwischen den Parktaschen gestanden, als der Erstbeklagte in ihr stehendes Auto gefahren sei.
Die Klägerin hat beantragt, die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, 899,95 € nebst gesetzlicher Verzugszinsen ab 6. April 2011 und vorgerichtliche Kosten in Höhe von 108,88 € an sie zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie haben behauptet, beide Fahrzeuge seien zeitgleich losgefahren. Im Unfallzeitpunkt hätten sich beide Fahrzeug in Rückwärtsfahrt befunden. Das klägerische Fahrzeug habe die Parktasche vorkollisionär noch nicht vollständig verlassen. Die Beklagten meinen, die Klägerin müsse sich auf eine günstigere, gleichwertige Reparaturmöglichkeit bei der … oder dem … verweisen lassen, wo der Schaden – insoweit unstreitig – für 1.600,04 € repariert werden könne.
Das Erstgericht, auf dessen Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen … und … sowie durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Daraufhin hat es die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 43,72 € (versehentlich tenoriert mit 73,72 €) nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagten seien zum Ersatz des hälftigen Schadens verpflichtet. Keine der Parteien habe den Nachweis der Unabwendbarkeit des Unfalls geführt. Zu Lasten beider Seiten sei ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot (§ 1 Abs. 2 StVO) in die Haftungsabwägung einzustellen. Zwar habe die Klägerin im Unfallzeitpunkt gestanden. Es sei jedoch nicht erwiesen, dass sie länger als einen Sekundenbruchteil gestanden habe. Eine Verweisung auf eine Reparaturmöglichkeit in einer freien Werkstatt sei der Klägerin unzumutbar.
Mit ihrer hiergegen gerichteten Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Klagebegehren in der Sache in vollem Umfang weiter. Sie rügt, das Erstgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass sie ihren Ausparkvorgang noch nicht abgeschlossen habe. Sie meint, da ihr Fahrzeug vorkollisionär gestanden habe, treffe sie keine Mithaftung.
Die Klägerin beantragt, die Beklagten unter Abänderung des am 13. Juni 2012 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Saarbrücken, Az. 4 C 199/11 (04), zu verurteilen, an sie 826,23 € nebst gesetzlicher Verzugszinsen ab dem 6. April 2011, des weiteren vorgerichtliche Kosten in Höhe von 62,47 € zu zahlen.
Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen die angegriffene Entscheidung.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. In der Sache hat sie einen Teilerfolg. Die Klägerin kann 80 % ihres Schadens, entsprechend 557,46 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten, ersetzt verlangen.
1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Klägerin wie auch die Beklagten grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. § 7 Abs. 1 bzw. § 18 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies ist zutreffend und wird von der Berufung auch nicht angegriffen.
Insbesondere hat die Klägerin hier nicht schon allein dadurch den Anforderungen an einen „Idealfahrer“ (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 13. Dezember 1990 – III ZR 14/90, BGHZ 113, 164 ff.; Saarländisches Oberlandesgericht, zfs 2003, 118; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. § 17 StVG Rn. 22 mwN.) genügt, dass sie vorkollisionär zum Stehen kam. Ein Idealfahrer an der Stelle der Klägerin hätte die Möglichkeit eines Ausparkens auch des Erstbeklagten in Betracht gezogen und den eigenen Ausparkvorgang früher unterbrochen oder notfalls ganz zurückgestellt, wenn er eine Kollision bis zum vollständigem Abschluss des Ausparkvorgangs nicht ausschließen konnte. Hier kam es jedoch noch vor dem Abschluss des Ausparkens zur Kollision. Denn nach den plausiblen und insoweit unangegriffenen Ausführungen des von dem Erstgericht eingeholten und zugrunde gelegten Gutachtens des Sachverständigen … befand sich das klägerische Fahrzeug im Unfallzeitpunkt noch schräg zur Fahrgasse.
2. Im Rahmen der hiernach gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und –verschuldensanteile hat das Erstgericht zu Recht angenommen, dass der Erstbeklagte den Unfall durch einen schuldhaften Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO verursacht hat.
a) Zu Recht hat das Erstgericht angenommen, dass sich die Verhaltenspflichten des Erstbeklagten nach § 1 Abs. 2 StVO und nicht nach § 9 Abs. 5 StVO bestimmten. Nach der Rechtsprechung der Kammer findet § 9 Abs. 5 StVO auf Parkplätzen, denen – wie hier – der eindeutige Straßencharakter fehlt, und die daher allein dem ruhenden Verkehr dienen, keine unmittelbare Anwendung (vgl. Kammerurteile vom 10. Februar 2012 – 13 S 181/11, NJW-RR 2012, 476 ff.; 9. Juli 2010 – 13 S 61/10; zfs 2011, 494; 7. Mai 2010 – 13 S 14/10; 12. Februar 2010 – 13 S 239/09 – und 14. November 2008 – 13 S 126/08, jew. mwN; ebenso OLG Koblenz, zfs 2000, 80 f.; OLG Hamburg, VRS 98, 223; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. § 9 StVO Rdn. 51, mwN.; ähnlich OLG Stuttgart, NJW 2004, 2255; tendenziell a.A. OLG Hamm, Urteil vom 11. September 2012 – I-9 U32/12, zit. nach juris, mwN.). § 9 Abs. 5 StVO dient primär dem Schutz des fließenden und deshalb typischerweise schnelleren Verkehrs (vgl. OLG Dresden, NZV 2007, 152; OLG Jena, VRS 108, 294; OLG Stuttgart aaO; OLG Koblenz aaO; Kammerurteil vom 10. Dezember 2010 – 13 S 80/10; Hentschel/König/Dauer aaO § 9 StVO Rdn.51; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. § 9 StVO Rdn. 67; Elsner, jurisPR-VerkR 7/2010 Anm. 3). Auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter muss jedoch anders als im fließenden Verkehr jederzeit mit rangierenden und damit auch rückwärtsfahrenden Fahrzeugen gerechnet werden. Anstelle des § 9 Abs. 5 StVO ist deshalb hier das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme (§ 1 Abs. 2 StVO) zu beachten.
b) Danach muss sich ein Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Im ruhenden Verkehr sind die hiernach einzuhaltenden Sorgfaltspflichten der Kraftfahrer einander angenähert. Da auf Parkplätzen stets mit ausparkenden und rückwärts fahrenden Fahrzeugen zu rechnen ist, müssen Kraftfahrer hier so vorsichtig fahren, dass sie jederzeit anhalten können (vgl. OLG Koblenz, VersR 2001, 349 f.; KG, KGR 2000, 401 ff.; VRS 104, 24; OLG Köln VersR 1995, 719 f.; OLG Hamm, VRS 99, 70 ff.; Kammerurteile vom 10. Februar 2012 – 13 S 181/11; 12. Februar 2010 aaO mwN.; Hentschel/König/Dauer aaO, § 8 StVO Rdn. 31a; § 9 Rdn. 51). Das gilt in besonderem Maße für den rückwärts fahrenden Verkehrsteilnehmer. Bei ihm ist die besondere Gefährlichkeit des Rückwärtsfahrens, die wegen des eingeschränkten Sichtfeldes des Rückwärtsfahrenden für den rückwärtigen Verkehr besteht, mit einzubeziehen. Entsprechend der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO muss er sich deshalb so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann (vgl. Kammerurteile vom 10. Februar 2012 aaO; 27. Mai 2011 – 13 S 25/11 – und 10. Dezember 2010 aaO).
c) Diesen Anforderungen hat der Erstbeklagte nicht genügt. Wie unstreitig ist und von dem Gutachten des Sachverständigen … überdies bestätigt wird, befand sich der Erstbeklagte im Kollisionszeitpunkt noch in Rückwärtsfahrt.
3. Entgegen der angegriffenen Entscheidung kann der Klägerin allerdings kein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO zur Last gelegt werden.
a) In tatsächlicher Hinsicht hat das Erstgericht es – anders als die Klägerin meint –ausdrücklich (Seite 5) als erwiesen angesehen, dass das klägerische Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision stand. Soweit das Erstgericht ausführt, der Ausparkvorgang sei noch nicht abgeschlossen gewesen, soll damit ersichtlich nur zum Ausdruck gebracht werden, dass die Klägerin noch eine weitere Fahr- und Lenkbewegung hätte ausführen müssen, um vollständig auszuparken. Dass die Klägerin bereits über einen längeren Zeitraum gestanden hätte, hat das Erstgericht hingegen nicht als erwiesen angesehen.
b) Diese Feststellungen sind – entgegen dem Angriff der Beklagten – zutreffend. Das Erstgericht hat sich in seiner Beweiswürdigung entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt, ohne gegen Denk- oder Erfahrungsgesetze zu verstoßen. Dabei ist es in der Sache zunächst von den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigengutachtens ausgegangen, wonach anhand der punktuellen Schadenscharakteristik und mangels horizontaler Streifberührungsspuren von einem Stillstand des klägerischen Pkw im Unfallzeitpunkt auszugehen ist, die Dauer des Stillstandes jedoch nicht mehr genau festzustellen ist. Weiter hat das Erstgericht die Bekundungen der Zeugen zutreffend gewürdigt. Aus ihnen ergaben sich keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte, aufgrund derer das Erstgericht die Dauer des Stillstands des klägerischen Fahrzeugs verlässlich hätte abschätzen können.
c) Unter diesen Umständen ist es den Beklagten nicht gelungen nachzuweisen, dass die Klägerin den Unfall durch einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO verursacht hat.
aa) Zu § 9 Abs. 5 StVO entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass der Anscheinsbeweis gegen den Rückwärtsfahrer spricht, wenn es in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren zu einem Zusammenstoß kommt (statt vieler: OLG München, Urteil vom 27. Mai 2010 – 10 U 4431/09, zit. nach juris; OLG Dresden, Schaden-Praxis 2010, 174; KG, VRS 108, 190; OLG Celle, OLGR Celle 2007, 585 f.; OLG Köln, DAR 2006, 27; Burmann/Heß/Jahnke/Janker aaO § 9 Rdn. 69; Hentschel/König/Dauer aaO § 9 Rdn. 55). Etwas anderes gilt nicht schon dann, wenn der rückwärts Fahrende zum Unfallzeitpunkt steht. Vielmehr entfällt der Anscheinsbeweis erst, wenn der rückwärts Fahrende zum Unfallzeitpunkt bereits längere Zeit zum Stehen gekommen war (vgl. KG, MDR 2010, 503; VRS 108, 190; OLG Köln, DAR 2006, 27; LG Bochum, VRR 2009, 304; LG Kleve, Urteil vom 11. November 2009 – 5 S 88/09, zit. nach juris; LG Berlin, Urteil vom 19. Oktober 2000 – 58 S 112/00, zit. nach juris; AG Hamburg, Schaden-Praxis 2006, 416; Nugel, jurisPR-VerkR 1/2010, Anm. 3). Dies wird von der Kammer nicht in Zweifel gezogen.
bb) Teilweise werden diese Grundsätze auf Parkplätze übertragen, auf denen sich die Sorgfaltspflichten nach § 1 Abs. 2 StVO richten (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 11. September 2012 aaO; LG Bad Kreuznach, zfs 2007, 559; LG Arnsburg, Urteil vom 27.9.2005 – 5 S 58/05, zit. nach juris; AG Herne, Urteil vom 17. Februar 2010 – 20 C 389/00, zit. nach juris; wohl auch KG, VRS 118, 354 ff.; LG Braunschweig, Urteil vom 29. Juni 2010 – 7 S 490/09, zit. nach juris). Dem folgt die Kammer nicht (vgl. Kammerurteile vom 10. Februar 2012 aaO; 9. Juli 2010 aaO und 7. Mai 2010 aaO). Kommt es auf einem Parkplatz ohne eindeutigen Straßencharakter in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren zu einem Unfall, steht aber fest, dass der rückwärts Fahrende vorkollisionär zum Stehen gekommen ist, so greift der Anscheinsbeweis bereits nicht ein oder ist jedenfalls erfolgreich erschüttert.
cc) Der Beweis des ersten Anscheins stellt kein besonderes Beweismittel dar, sondern ist lediglich der konsequente Einsatz von Sätzen der allgemeinen Lebenserfahrung im Rahmen der freien Beweiswürdigung (BGH, Urteil vom 17. Juni 1997 – X ZR 119/94, NJW 1998, 79; Geigel/Knerr, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl. Kap 37 Rdn. 43). Steht zur richterlichen Überzeugung ein Sachverhalt fest, der nach den Regeln des Lebens und nach der Erfahrung vom Üblichen und Gewöhnlichen typisch für einen bestimmten Geschehensablauf ist, so vermittelt diese Typizität die richterliche Überzeugung auch im zu entscheidenden Einzelfall (vgl. BGH, Urteil vom 5. November 1996 – VI ZR 343/95, VersR 1997, 205; Urteil vom 19. März 1996 – VI ZR 380/94, NJW 1996, 1828; Urteil der Kammer vom 30. Oktober 2010 – 13 S 161/09; Geigel/Knerr, aaO Kap 37 Rdn. 43). Voraussetzung ist danach das Bestehen eines allgemeinen Erfahrungssatzes, nach dem sich der Schluss auf eine bestimmte Ursache oder Wirkung aufdrängt.
Bei der Prüfung, ob ein typischer Geschehensablauf in diesem Sinn vorliegt, sind sämtliche bekannten Umstände des Falles in die Bewertung einzubeziehen (BGH, Urteil vom 4. Dezember 2000 – II ZR 293/99, VersR 2001, 457; Urteil vom 19. März 1996 – VI ZR 380/94, VersR 1996, 772; Urteil vom 19. November 1985 – VI ZR 176/84, VersR 1986, 343 f.). Denn ob ein Sachverhalt im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84 ff.; Urteil vom 19. März 1996 aaO).
dd) Definiert man den Sachverhalt, auf den hin die Anwendungsvoraussetzungen des Anscheinsbeweises zu prüfen sind, hier unter Einbeziehung des Stillstandes des klägerischen Fahrzeugs, so lässt sich für einen solchen Sachverhalt bereits keine typische Lebenserfahrung begründen, wonach der Rückwärtsfahrer, der vorkollisionär gestanden hat, den Unfall verschuldet hat. Ließe man hingegen für die Anwendung des Anscheinsbeweises schon eine Kollision im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren genügen, so wäre ein sich dann ergebender Anscheinsbeweis bei Nachweis eines Stillstandes im Kollisionszeitpunkt jedenfalls erfolgreich erschüttert. Denn in einem Fall der hier vorliegenden Art besteht jedenfalls keine typische Lebenserfahrung für einen Verkehrsverstoß auf Seiten des stehenden Verkehrsteilnehmers. Eine solche Typizität wird von der Gegenauffassung auch nicht näher begründet. Es besteht vielmehr die ernsthafte Möglichkeit, dass der Rückwärtsfahrer in Erfüllung all seiner Verkehrspflichten rechtzeitig angehalten hat und nur der im Fahren befindliche Unfallgegner den Unfall verschuldet hat. Anders als im fließenden Verkehr genügt der Rückwärtsfahrer im ruhenden Verkehr nämlich regelmäßig, d.h. wenn er nicht gegen eine sonstige Sorgfaltspflicht verstoßen hat, den ihn treffenden Pflichten, wenn er so bremsbereit fährt, dass er jederzeit vorkollisionär anhalten kann.
Das Höchstmaß an Sorgfalt, das § 9 Abs. 5 StVO im fließenden Verkehr verlangt, findet seine Rechtfertigung in der Gefährlichkeit des Fahrmanövers für den fließenden Verkehr, der sich durch seine typischerweise höhere Geschwindigkeit auszeichnet. Für den fließenden, typischerweise rascheren Verkehr stellt sich ein rückwärtsfahrendes Fahrzeug stets als potentielle Gefährdung dar, weil es ein Hindernis bildet, den Anhalteweg des fließenden Verkehrs verkürzt oder jedenfalls Ungewissheit über das weitere Fahrverhalten begründen kann (vgl. OLG Jena aaO; OLG Koblenz aaO). Der fließende Verkehr wird vor dieser Gefahr durch den Vertrauensgrundsatz geschützt. Danach muss sich der fließende Verkehr auf eine solche Störung nicht einstellen (vgl. OLG Hamm aaO; OLG Frankfurt, VersR 1982, 1079).
Im ruhenden Verkehr besteht eine solche rechtlich geschützte Verkehrserwartung jedoch nicht. Denn im ruhenden Verkehr und insbesondere auf Parkplätzen, auf denen die Pflichten der Kraftfahrzeugführer einander angenähert sind, muss sich jeder Kraftfahrer – wie dargelegt – auf mögliche Hindernisse und Störungen, die von einem Rangieren anderer Fahrzeuge ausgehen, einstellen und so vorsichtig fahren, dass er notfalls jederzeit anhalten kann. Die Schaffung solcher mit dem Rangieren verbundener Hindernisse oder Störungen, auf die sich der ruhende Verkehr einstellen muss, kann dann keine besondere Gefährlichkeit des Rückwärtsfahrens im ruhenden Verkehr begründen. Die spezifische Gefährlichkeit des Rückwärtsfahrens beschränkt sich im ruhenden Verkehr vielmehr darauf, dass der rückwärts Fahrende wegen seines eingeschränkten Gesichtsfeldes nach hinten andere Verkehrsteilnehmer schlechter erkennen und auf drohende Gefahren deshalb schlechter reagieren kann. Diese Gefahr hat sich jedoch nicht typischerweise realisiert, wenn der rückwärts Fahrende vorkollisionär zum Stehen kommt. Denn es ist möglich, dass er in Erfüllung der ihn treffenden Pflichten jederzeit bremsbereit gefahren ist und rechtzeitig angehalten hat. Die bloße Möglichkeit, dass der rückwärts Fahrende auch rein zufällig zum Stehen gekommen sein könnte, vermag eine Typizität für eine verkehrswidrige Unfallverursachung dann nicht begründen. Denn für sie spricht keine höhere Wahrscheinlichkeit als für ein regelgerechtes Verhalten.
dd) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der Nachweis eines Verstoßes gegen die Pflichten beim Rückwärtsfahren hier nicht geführt.
Einen sonstigen Verkehrsverstoß der Klägerin haben die Beklagten nicht nachgewiesen.
a) Zwar gebietet die gesteigerte Sorgfaltspflicht im ruhenden Verkehr (§ 1 Abs. 2 StVO) unabhängig von den spezifischen Pflichten des Rückwärtsfahrens auch, dass der Kraftfahrer so vorsichtig fährt, dass er kein plötzliches Hindernis für andere Verkehrsteilnehmer bildet. Das gilt insbesondere beim Ausparken aus einer Parktasche, und zwar auch gegenüber einem Verkehrsteilnehmer, der aus einer gegenüberliegenden Parktasche ausparken will. Genügt der zur Verfügung stehende Raum nicht für ein gleichzeitiges, gefahrloses Ausparken beider Fahrzeuge, muss der eigene Ausparkvorgang zurückgestellt werden, wenn der andere Verkehrsteilnehmer bereits mit dem Ausparken begonnen hat. Wollen beide Verkehrsteilnehmer gleichzeitig ausparken, haben sie sich miteinander zu verständigen (vgl. Urteil der Kammer vom 7. Mai 2010 – 13 S 14/10; Hentschel/König/Dauer aaO, § 8 Rdn. 31a). Für eine solche Verständigungspflicht ist allerdings nur dann Raum, wenn der Ausparkende vor oder während des Ausparkens erkennen kann, dass der andere Verkehrsteilnehmer ebenfalls ausparken will.
b) Die Voraussetzungen für eine solche Verständigungspflicht der Klägerin stehen hier jedoch nicht fest. Dass der Erstbeklagte vor der Klägerin mit dem Ausparken begonnen hätte, behaupten die Beklagten nicht. Es steht aber auch nicht fest, dass beide Fahrzeuge gleichzeitig mit dem Ausparken begonnen hätten oder die Klägerin jedenfalls die Ausparkabsicht des Erstbeklagten wenigstens so frühzeitig hätte erkennen müssen, dass sie ihren eigenen Fahrvorgang zurückstellen oder vorzeitig hätte abbrechen müssen. Zwar haben die Beklagten vorgetragen, an dem klägerischen Fahrzeug sei noch kein Zeichen eines beabsichtigten Rückwärtsfahrens erkennbar gewesen sei, als der Erstbeklagte in den Außenspiegel geschaut habe. Daraus kann jedoch nicht umgekehrt gefolgert werden, dass die Klägerin den beabsichtigten Ausparkvorgang des Erstbeklagten hätte erkennen müssen. Selbst wenn der Beklagtenvortrag insoweit als wahr unterstellt werden könnte, stünde damit nämlich nicht fest, wie viel Zeit zwischen dem Blick des Erstbeklagten in den Außenspiegel und dem Fahrbeginn vergangen ist. Dass die Klägerin in dieser Zeit mit dem Ausfahren begonnen haben kann, konnte auch nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme nicht ausgeschlossen werden. Die Zeugin … vermochte zu dem – auch sachverständigerseits nicht aufklärbaren – Zeitpunkt des Losfahrens der Klägerin keine Angaben zu tätigen. Der Zeuge … widersprach zu diesem Punkt sogar der Unfalldarstellung der Beklagten.
5. Im Rahmen der gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile, bei der nur feststehende Tatsachen zu berücksichtigen sind (vgl. BGH Urteil vom 27. Juni 2000 – VI ZR 126/99, VersR 2000, 1294; Urteil vom 10. Januar 1995 – VI ZR 247/94, VersR 1995, 357), ist danach lediglich auf Seiten der Beklagten ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO zu berücksichtigen. Jedoch führt die mitwirkende Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeuges unter den hier gegebenen Umständen zu einer Mithaftung von 20 %. Denn der Verkehrsverstoß des Erstbeklagten wiegt nicht so schwer, dass die mitwirkende Betriebsgefahr auf Klägerseite ganz dahinter zurücktreten müsste (vgl. zur Haftungsverteilung auch die Kammerurteile vom 7. Mai 2010 aaO, vom 10. Dezember 2010 aaO – und vom 27. Mai 2011 aaO).
6. Zu Recht hat das Erstgericht angenommen, dass sich die Reparaturkosten, deren anteiligen Ersatz die Klägerin verlangen kann, auf netto 1.687,47 € belaufen.
a) Die Klägerin rechnet ihren – dem Umfang nach unstreitigen – Sachschaden auf der Grundlage eines Kostenvoranschlags ab, dem unstreitig die üblichen Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt zugrunde liegen. Damit leistet sie dem Wirtschaftlichkeitsgebot genüge und bewegt sich entsprechend den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BGHZ 183, 21 ff.; BGH, Urteile vom 22. Juni 2010 – VI ZR 337/09, VersR 2010, 1097 f. und VI ZR 302/08, VersR 1096 f.; Urteil vom 13. Juli 2010 – VI ZR 259/09, VersR 2010, 1380 f.) in den für die Schadensbehebung nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB gezogenen Grenzen.
b) Die Beklagten können die Klägerin hier auch nicht auf eine mühelos und ohne weiteres zugängliche günstigere Reparaturmöglichkeit verweisen. Auch bei einem Kraftfahrzeug, das – wie hier das klägerische Fahrzeug – älter als drei Jahre alt ist, kann es für den Geschädigten unzumutbar sein, sich auf eine technisch gleichwertige Reparaturmöglichkeit außerhalb einer markengebundenen Fachwerkstatt verweisen zu lassen, wenn der Geschädigte sein Kraftfahrzeug bisher stets in einer markengebundenen Fachwerkstatt hat warten und reparieren lassen (BGH, Urteile vom 20. Oktober 2009 – VI ZR 53/09, BGHZ 183, 21-28, vom 22. Juni 2010 – VI ZR 302/08, VersR 2010, 1096 f., und vom 13. Juli 2010 – VI ZR 259/09, MDR 2010, 1181 f.). So liegt der Fall hier. Unabhängig von dem hohen Alter des klägerischen Fahrzeugs verdient die tatsächliche Disposition der Klägerin über ihr Eigentum, die unstreitig sämtliche Inspektionen in einer Markenwerkstatt hat durchführen lassen, unter den gegebenen Umständen Schutz.
7. Danach kann die Klägerin ihren Schaden wie folgt ersetzt verlangen:
Reparaturkosten (netto) 1.687,47 €
Unkostenpauschale 25,00 €
Zwischensumme 1.712,47 €
hiervon 80 % 1.369,98 €
hierauf gezahlt – 812,52 €
noch zu ersetzender Schaden 557,46 €
8. Gemäß §§ 288 Abs. 1, 286 BGB kann die Klägerin Verzugszinsen seit Ablauf der mit Schreiben vom 22. März 2011 gesetzten Frist verlangen. Ihre vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten kann sie gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB aus einem erstattungsfähigen Gesamtschaden in Höhe eines Gegenstandswertes von bis zu 1.500,00 € gemäß §§ 2, 13 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 VVRVG in Höhe von 1,3 x 105,00 € (Geschäftsgebühr) + 20,00 € (Pauschale) + 29,74 € (MwSt.) = 186,24 € abzüglich hierauf gezahlter 120,67 €, entsprechend insgesamt 65,57 € geltend machen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
Die Revision wird gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO in beschränktem Umfang (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2010 – VI ZR 237/09, NJW 2011, 155; Urteil vom 25. März 1980 – VI ZR 61/79, BGHZ 76, 397 ff.) zugelassen, und zwar hinsichtlich der Frage, ob der Anspruch der Klägerin dem Grunde nach durch ein mitwirkendes Verschulden bei der Unfallverursachung gemindert ist. Die Rechtssache hat insoweit grundsätzliche Bedeutung. In einer unbestimmten Vielzahl von Fällen wird die Frage entscheidungserheblich, ob bei einem Unfall auf einem Parkplatz ohne Straßencharakter der Beweis des ersten Anscheins auch dann für eine schuldhafte Unfallverursachung durch den Rückwärtsfahrer spricht, wenn es dem Kraftfahrer gelingt, vorkollisionär zum Stillstand zu kommen. Die Zulassung ist auch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten, da die Entscheidung in vorstehender, entscheidungserheblicher Frage von der Rechtsprechung anderer Gerichte abweicht.